Multikulturalsimus am Beispiel Chinas
Multikulturalsimus am Beispiel Chinas

Multikulturalsimus am Beispiel Chinas

Die Hausarbeit “Multikulturalismus am Beispiel Chinas“ entstand für mein Nebenfach Philosophie im SoSe2022 unter der Leitung des Dozenten Dr. Thomas Meier. (Umfang 18 Seiten; Quellen im Pdf.) Das Beitragsbild generierte Dal-E.

Einleitung

Das chinesische Wort Baizuo (白左) ist ein Spottwort. Es bezeichnet überwiegend westliche Menschen, die sich mit politischen Themen wie Minderheiten, LGBT und Einwanderung auseinandersetzen und dabei die Realität völlig aus den Augen verlieren (Graw 2017; Urban Dictionary 2019; Zhang 2017). In gewisser Weise kritisiert der Begriff den Multikulturalismus, dessen Auslegung im Westen seit den 1970ern ständig debattiert wird. Das Schimpfwort Baizuo mag die westlichen Stereotype bestätigen, dass China Individualismus & Pluralität bekämpft und dass alle Chinesen deshalb gleich sind. Doch die ethnische Vielfalt würde manch eine Leserin oder einen Leser positiv überraschen. Die Volksrepublik China ist insofern vom Multikulturalismus geprägt, dass eine Vielzahl unterschiedlicher Kulturen koexistieren. Das Problem, wie auch in vielen westlichen Ländern, sei der Umgang mit ethnischen Minderheiten. Denn wie der normative Multikulturalismus durchgeführt werden sollte, ist noch lange nicht in Stein gemeißelt. Auch im Westen wird die Integrationspolitik oft missverstanden. 

Diese Hausarbeit geht innerhalb des Themas der politischen Philosophie aufgrund der Verwirrung um den Begriff des Multikulturalismus der Fragestellung nach, inwiefern der normative Multikulturalismus praktisch umsetzbar ist, und zieht Chinas Umgang mit ethnischen Minderheiten als Untersuchungsgegenstand & reales Beispiel heran. Diese Fragestellung soll durch (1) eine kritische Auseinandersetzung mit dem Multikulturalismus-Begriff, (2) eine Vorstellung der ethnischen Minderheiten in China, (3) eine Aufzählung chinesischer Problematiken des Multikulturalismus sowie (4) zwei allgemeine Vorschläge zur Integrationspolitik beantwortet werden. Ziel der Hausarbeit sei, den eingeengten Multikulturalismus-Begriff kritisch zu hinterfragen und für diesen ein produktives Anwendungsfeld zu finden.

Multikulturalismus-Begriff

Definition

Was ist Multikulturalismus? Multikulturalismus ist zunächst die Koexistenz verschiedener Kulturen in einem Land. The Stanford Encyclopedia of Philosophy beschreibt Multikulturalismus als eine politische Art und Weise mit ethnischer, religiöser sowie nationaler Vielfalt umzugehen (Song 2020). Multikulturalismus zielt meist auf bessere Bedingungen für Minderheiten bei der Integration, unter anderem auf das Behalten von traditionellen Praxen und Identitäten im Alltag (ebd.). Der multikulturalistische Ansatz der Politik basiert auf Gleichberechtigung aller BürgerInnen eines Staates und den liberalen Aspekten der Anerkennung, der Freiheit sowie des gegenseitigen Respekts (ebd.). Darüber hinaus beinhaltet der Begriff oft unterschiedliche, normative Bedeutungen; Multikulturalismus sei die Vorstellung, dass Menschen ‚nicht trotz ihrer Unterschiede gleich, sondern wegen dieser Unterschiede verschieden‘ zu behandeln seien“ (Chervel 2017). So gilt der sogenannte melting pot als verpönt, weil er eine Assimilierung von Minderheiten an die Nationalkultur der Mehrheit suggeriert (Song 2020). Im breiteren Kontext wird unter Multikulturalismus neben religiösen, nationalen sowie indigenen Minderheiten auch die Förderung anderer marginalisierter Gruppen verstanden, wie zum Beispiel AfroamerikanerInnen, Frauen, die LGBTQ-Community, Menschen mit Behinderungen (ebd.). Multikulturalismus befördere keine Division oder Separation bestimmter Kulturen aus dem gesellschaftlichen Kontext, sondern plädiere für eine Minderheiten-gesteuerte Inklusion (ebd.). Angesichts der sogenannten „Flüchtlingskrise“ sowie des vermeintlichen Orientalismus, der als Angriff auf die westliche Kultur wahrgenommen wurde, ist der Multikulturalismus oft negativ konnotiert (ebd.). 

Ökonomische vs. Status-Hierarchie

Will Kymlicka unterscheidet zwischen der ökonomischen und der Status-Hierarchie einer Gesellschaft und identifiziert letztere als den Ausgangspunkt für den Multikulturalismus (Kymlicka 2002, S.327ff.). In der Industrialisierung versuchte die englische Regierung, die finanziellen Ungleichheiten, Unzufriedenheiten sowie das Widerstandspotential der Arbeiterklasse durch eine Umverteilungspolitik aufzuheben, um die ökonomischen Hierarchien zu überwinden (ebd.). T.H. Marshall entwickelte das traditionelle Modell des Sozialstaats im Hinblick auf die Bildung einer stabilen Nation. Sein integratives Konzept der Bürgerschaft bettete das englische Proletariat in eine einheitliche nationale Kultur ein, mit einer Sprache und einer Identität. Durch die erfolgreiche Integrationspolitik steigerte Marshall die allgemeine Zufriedenheit der finanziell-schwachen BürgerInnen, beförderte das Vertrauen in die Regierung und verhinderte provisorisch die Unterstützung ausländischer Ideologien, wie zum Beispiel den Kommunismus. Obwohl die Mehrheit nun am kulturellen Leben partizipieren konnte, wurden Minderheiten benachteiligt, diskriminiert sowie stigmatisiert. Die Nationsbildung resultierte in einer symbolischen Hierarchie, indem die Pluralität sozio-kultureller Identitäten vernachlässigt wurde. Aufgrund der Status-Diskrepanz in Form von Diskriminierung sowie Rassismus plädiert Kymlicka für eine multikulturalistische Reform (ebd.).

Multikulturalismus-Debatten

Nach Kymlicka durchwanderte der Multikulturalismus-Begriff mehrere Bedeutungen in verschiedenen Debatten. In den 1960ern bis 1980ern wurde der Begriff dem Kommunitarismus zugeordnet (Reckwitz 2001, S.179ff.; Kymlicka 2002, S.336ff.). In der Gegenüberstellung des Liberalismus und des Kommunitarismus, bildete letzteres das philosophische Fundament für die Rechte der Minderheiten (ebd.). Später versuchte man den Multikulturalismus im liberalen Framework einzubeziehen, zumal liberal-demokratische Werte von einer Reflexion multiethnischer Prinzipien profitieren konnten (Kymlicka 2002, S.338ff.). Herausforderungen seien im Multikulturalismus aus liberaler Sicht das Recht der Gruppe gegen eigene Mitglieder bei internen Meinungsverschiedenheiten (internal restrictions) zu handeln und das Recht der Gruppe gegen die Gesellschaft zum Schutz vor externen Einflüssen (external protections) zu agieren (ebd.). Beide Rechte konfligieren mit den liberalen Werten: ersteres könne das Individuum unterdrücken, letzteres könne andere Minderheitsgruppen einschränken (ebd.). Multikulturalismus ließe sich auch als Antwort auf die Nationsbildung verstehen (ebd., S.343ff.). Nach Kymlicka würde ein liberaler Staat idealerweise in Bezug auf ethnokulturelle Vielfalt eine „wohlwollende Vernachlässigung“ (benign neglect) praktizieren (ebd., S.343). Das heißt, der Staat sei neutral gegenüber allen Identitäten der BürgerInnen. Allerdings widerlegt Kymlicka die Neutralität des Staates in Bezug auf die Kultur, denn der Staat fördert immer eine Kultur, sei es aus Gründen der Effizienz (ebd., S.344ff.). Ein Beispiel sei die gesetzliche Förderung einer Nationalsprache in allen Schulen. Im Multikulturalismus sei das Ziel die Promotion verschiedener Kulturen (ebd.).

Pluralistisches Homogenitätsmodell

Als einflussreicher Theoretiker des Multikulturalismus vertritt Kymlicka einen normativen Ansatz der politisch-liberalen Philosophie und stellt sich die Frage, wie sich eine gegenseitige Anerkennung unterschiedlicher kultureller Gemeinschaften mit konfligierenden Wertvorstellungen vereinen lässt (Reckwitz 2001, S.181). Doch was versteht Kymlicka unter Kulturen? „I am using ‚a culture’ as synonymous with ‚a nation‘ or ‚a people‘ […] that is, as an intergenerational community, more or less institutionally complete, occupying a given territory or homeland, sharing a distinct language and history” (Kymlicka 1995, S.18). Die Identifikationen von Kulturen als homogene Entitäten mit klaren Kollektivgrenzen entspringt der Tradition nach Herder, der einst einen totalitätsorientierten Kulturbegriff praktizierte (Reckwitz 2001, S.180 & 185ff.). Nach Herder repräsentieren Kulturen kugelförmige Sphären, die eine Gemeinschaft von Menschen sowie ihre Ideensysteme umfassen (ebd.). Auch Charles Taylor reduziert seine normative Philosophie des Multikulturalismus auf den homogenen Kulturbegriff, nachdem er zuvor Kultur als kognitive Konstruktion der Handlungsumwelt in Form einer „symbolischen Sprache“ (background languages) bezeichnet hatte (ebd., S.181ff.). Taylor transformierte sein Konzept insofern, dass er Kulturen mit Gemeinschaften gleichsetzte, die fortbestehen wollen (ebd., S.182-183). Kulturen scheinen nach Taylor sowie Kymlicka gegeneinander um ihr „Überleben“ zu kämpfen (vgl. ebd., S.180ff.). Leider ist dieses pluralistische Homogenitätsmodell ein essentialistisches Multikulturalismus-Konzept, das versucht, Kultur bedeutungsholistisch zu erfassen; es engt die empirisch-analytischen Möglichkeiten ein und stellt die Wirklichkeit nicht richtig dar (ebd., S.188). The Stanford Encyclopedia of Philosophy registriert ebenfalls diese Kritik am Multikulturalismus (Song 2020).

Bedeutungsorientier Kulturbegriff

In den 1980ern entwickelten EthnologInnen von der Krise der Ethnologie sowie dem Cultural Turn ausgehend eine Vielzahl an postkolonialen Kulturtheorien. Kultur lässt sich nicht nur als Konglomerat aus Religion, Sprache, Ethnie und Nationalität beschreiben. Kulturen umfassen weitaus mehr Dimensionen; sie sind fundamental heterogen sowie dynamisch. AkteurInnen werden als TrägerInnen verschiedener Kulturelemente wahrgenommen (Reckwitz 2001, S.188). Kulturen koexistieren innerhalb eines Nationalstaats, können sich überlappen und nehmen hybride Formen an (ebd.). Deshalb entkoppelt der anthropologische Ansatz des Multikulturalismus die symbolischen Ordnungen der Kultur, von der Gemeinschaft (ebd., S.186). Für den bedeutungsorientierten Kulturbegriff verwenden EthnologInnen wie Michail Bakhtin, Homi K. Bhaba oder Gerd Baumann Modelle kultureller Interferenzen (ebd., S.189-190). So erklärt Bhaba, dass Multikulturen ein natürliches Ergebnis globaler Migration sind, bei der AkteurInnen sich ständig neue Elemente aneignen und mit alten vermischen, ob bewusst oder unbewusst (Götze 2009, S.326ff.). Ja, eigentlich gibt es kein „Eigenes“ oder „Fremdes“ (ebd.). Das Konzept der Nationalkulturen hingegen sei die Ursache von Hass, Feindseligkeit und Konflikten (ebd.). 

Im Hinblick auf die Komplexität des Kulturbegriffs, ist eine Theorie des Multikulturalismus überhaupt möglich? Die Heuristik des nicht-essentialistischen Multikulturalismus nach Andreas Reckwitz müsse folgenden drei Ansprüchen gerecht werden: Erstens, der Multikulturalismus müsse eine Methode finden, sowohl zwischen Individuum & Kollektiv als auch zwischen ritueller Praxis & abstrakter Wissensordnung zu differenzieren (Reckwitz 2001, S.190ff.). An dieser Stelle bleibt zu fragen übrig, ob der Grad der Kreolisierung bei der Konvergenz zweier kultureller Strömungen empirisch erfassbar ist. Zweitens, der Multikulturalismus würde statt die Gemeinschaften die Bildung von Identitäten problematisieren (ebd., S.192ff.). Grundsätzlich entwickelt sich eine Identität einer Gruppe durch eine (vermeintliche) Homogenität und durch das Exkludieren einer anderen Gruppe. Dementsprechend wäre die Bildung einer Identität der Ursprung sozialer Spannungen, die es zu verhindern gilt. Drittens müsse der Multikulturalismus zwischen kulturellen Elementen und der Selbstdarstellung unterscheiden (ebd., S.193ff.). Denn eine Gruppe könnte zutiefst heterogen sein, aber sich zugleich nach außen als homogen präsentieren. 

Dies gibt Anlass für die Frage, ob der Multikulturalismus bisher falsch verstanden wurde. Das Multikulturalismus-Konzept scheint in der Theorie noch nicht ausgereift zu sein. Konkrete Problematiken in der Praxis lege ich im Folgenden dar.

Vielvölkerstaat China

中国 – Zhongguó – das Reich der Mitte. Das folgende Kapitel beschäftigt sich mit dem Volksrepublik China und ihrem Umgang mit ethnischen Minderheiten. 

Historischer Abriss

China durchlebte eine Vielzahl von Dynastien und Machtumbrüche, die in ihrer Gesamtheit den Rahmen meiner Hausarbeit sprengen würden. Im Folgenden habe ich einige Wendepunkte selektiert, die ich als wichtig erachtet habe. Nach der Epoche der Streitenden Reiche 445 bis 221 v.Chr. prägte die Dynastie der Qin die chinesische Kultur erheblich durch die Standardisierung der Schrift, Gesetze, Gewichte und Maße (Ludwig 2009, S.19ff.).  Parallel zur westlichen Han-Dynastie von 206 v.Chr. bis 9 n.Chr. konkurrierten die Xiongnu Föderation aus heterogenen Reiterverbänden um das Land. Die Reiterverbände kamen aus dem Gebiet der Mongolei und waren die Vorfahren der Mongolen sowie Turkvölker. Ein Teil von ihnen löste sich auf und schloss sich dem chinesischen Volk an. Die östliche Han-Dynastie expandierte zunächst Richtung Süden und annektierte die Nan-Yue & Min-Yue Völker (ebd., S.23). Bis 220 n.Chr. betrieb die Han-Dynastie eine exzessive Integrationspolitik, indem sie die südlichen Gebiete mithilfe von Soldaten, Landlose, Gefangene als Bauern besiedeln ließ (ebd., S.24ff.). Diese Bauern sollten als Träger der Kultur die konfuzianistische Ideologie propagieren und dem Kaiser loyal bleiben. In der Tang-Dynastie von 618 bis 907 n.Chr. expandierten die Chinesen weiter nach Westen, eroberten die Seidenstraße, verhandelten einen Friedensvertrag mit den Tibetanern und einigten sich auf den Grenzverlauf. In der Yuan-Dynastie von 1279 bis 1368 herrschten 2 Millionen Mongolen über 70 Millionen Chinesen durch ein repressives System der Klassen (ebd., S.28). Nachdem sich die Mongolen mit den Tibetern bekriegten, wurden die Mongolen vertrieben und der Qing-Kaiser der Chinesen erhob Anspruch auf Tibet (ebd., S.34). Nach dem Sturz der Qing 1911/1912 bildete Sun Yatsen als Führer der nationalchinesischen Bewegung einen Einheitsstaat und untergliederte ihn in fünf Nationalitäten: Han, Mandschuren, Mongolen, Uiguren, Tibeter (ebd., S.35ff.). Sun Yatsen versprach 1924 in seinem nationalen Entwicklungsprogramm das Selbstbestimmungsrecht für die Tibeter sowie Uiguren, doch sein Vorschlag scheiterte (Drewes 2016, S.49; Ludwig 2009, S.35ff.). An dieser Stelle war Tibet im Zeitraum zwischen 1912 bis 1950 rein theoretisch unabhängig. Daraufhin fragte die kommunistische Bewegung alle Völker & Minderheiten, ob sie die Unabhängigkeit von China wollten oder als autonomes Gebiet dem Bund der Räterepubliken beitreten würden. Trotz lukrativer Beitrittsbedingungen sprach die chinesische Regierung das Recht auf Selbstbestimmung nur den „werktätigen“ Bürgern zu, sodass nur ein Bruchteil der Tibeter sowie Mongolen eine verbindliche Entscheidung treffen konnten (vgl. ebd., S.36ff.). Obwohl schließlich Mao Zedong den vier Nationalitäten eine eigene Verfassung versprach, übernahm die Volksrepublik China die Macht am 1. Oktober 1949, ohne die Rechte für Autonomie umzusetzen (ebd., S.37). 

Aus dem winzigen Ausschnitt der chinesischen Geschichte lässt sich zusammenfassen, dass China schon seit Anbeginn der Zeitrechnung ein Konglomerat aus verschiedenen Völkern war, das durch Migration geprägt war. China ist also insofern faktisch multikulturell, dass mehrere Kulturen koexistieren. Unter anderem bekriegten sich das Volk der Mongolen, die Tibeter und die Chinesen untereinander. Bis heute findet Migration statt, sodass zum Beispiel in der inneren Mongolei die indigenen Mongolen nicht mehr die Mehrheit bilden (Ludwig 2009, S.40).

Nationalstaat China

Im Hinblick auf das Zeitalter der Moderne bildete sich die Nationalität der VR China nach dem stalinistischen Vorbild:

Eine historisch entstandene stabile Gemeinschaft von Menschen, entstanden auf der Grundlage der Gemeinschaft von vier grundlegenden Merkmalen, und zwar: auf der Grundlage der Gemeinschaft der Sprache, der Gemeinschaft des Territoriums, der Gemeinschaft des Wirtschaftslebens und der Gemeinschaft der psychischen Wesensart, die sich in der Gemeinschaft der spezifischen Besonderheiten der nationalen Kultur offenbart. (Stalin 1946)

Genau wie T.H. Marshall setzte China die Priorität auf die Überwindung der strukturellen Armut und der ökonomischen Hierarchie durch eine Vereinheitlichung administrativer sowie kultureller Dimensionen für mehr Effizienz. Die Olympischen Spiele in Beijing 2008 war das Aushängeschild Chinas für den bisherigen Erfolg, als Symbol für wirtschaftliche & soziale Fortschritte des Landes (Krumbein 2010, S.309). Ob die wirtschaftlichen, sozialen sowie kulturellen (WSK-)Menschenrechte eingehalten werden, sei fragwürdig (ebd.). Gewiss, China vermittelt nach außen ein homogenes Bild der Kultur und verbindet gleichzeitig seine BürgerInnen, indem die Regierung ein Bewusstsein für die eigene Identität kreiert (Ludwig 2009, S.15-16) – doch all das zu welchem Preis? Darüber hinaus mobilisiert die Kommunistische Partei die Nation, indem sie jegliche politische Kritik an der Partei zur Kritik am Land umdeutet (ebd.). Die vermeintlich homogene, chinesische Identität entsteht aus der Abgrenzung zum Westen. Das Behalten der Deutungshoheit über die „richtige Kultur“ zeigt eine undemokratische Form der Identitätserschaffung (Gruschke 2017, S.55).

Clemens Ludwig erklärt, China habe Angst vor der politischen Instabilität durch die Nationalitätenfrage (Ludwig 2009, S.178ff.). Die chinesische Regierung verweigert die Unabhängigkeit von Tibet, weil dies eine Kettenreaktion auslösen würde und alle ethnischen Minderheiten ihre Unabhängigkeit fordern würden (ebd.). Stattdessen versucht die Kommunistische Partei die Länder durch Wirtschaftswachstum und Wohlstand für sich zu gewinnen (ebd.). Nichtsdestotrotz habe die Weltmacht China in Bezug auf die Tibet-Frage eine Chance, ein neues Image zu bekommen. Durch eine tolerante Nationalitätenpolitik würde China seine internationale Reputation steigern (ebd., S.183-184).

Ethnische Minderheiten

2020 zählt China eine Bevölkerung von etwa 1,4 Milliarden Menschen. Als China 2007 eine Bevölkerung von etwa 1,3 Milliarden Menschen hatte, identifizierte die Volkszählung davon 106,43 Millionen Angehörige von Minderheiten und 1,189 Milliarden Han-Chinesen (Ludwig 2009, S.8). Minderheiten bildeten also nur 8,41% der gesamten Bevölkerung (ebd.). Nichtsdestotrotz bewohnen diese Minderheiten 60% der Fläche der Volksrepublik; ihr Land ist meistens eine strategische Grenzregion für China und beherbergt wertvolle Bodenschätze, unter anderem Erze, Gold, Holz sowie Uran (ebd., S.9 & S.55ff.). Auch verwendet China das hydroelektrische Potential von Minderheiten-Regionen, indem es Staudämme baut (ebd.). 

Unter Minderheiten versteht die Regierung der VR China 55 festgelegte, nationale Minderheiten neben der Volksmehrheit der Han-Bevölkerung (Ludwig 2009, S.62-66). Doch die Han-Chinesen bilden trotz des Oberbegriffs keine homogene Einheit, denn zu ihnen zählen die Kantonesen, Hakka, Fujianesen und andere assimilierte Völker (ebd., S.17). Für die Identifikation der nationalen Minderheiten verwendete China ethnische, linguistische sowie religiöse Kriterien (Ludwig 2009, S.15). Nach der Gründung der Volksrepublik China legte die Regierung in den 1950ern bestimmte ethnische Gruppierungen fest, nicht zuletzt aus politisch-strategischen Gründen (Ludwig 2009, S.62ff.; Drewes 2016, S.49). Im Zensus 1953 klassifizierte die Regierung aus mehr als 400 verschiedenen ethnischen Gruppen 41 anerkannte, dokumentierte Minderheiten; diese wurden 1964 und 1982 weiter ergänzt (vgl. Drewes 2016, S.49ff.). Obwohl diese Minderheiten insofern intrinsisch heterogen waren, dass sie teilweise andere Sprachen gesprochen haben, verzichtete die Regierung auf eine Konkretisierung (ebd.). So wurden zum Beispiel die Juden nicht berücksichtigt, die islamischen Hui benachteiligt und viele andere Gruppen haben gefehlt (vgl. Ludwig 2009, S.62-66). 

Zurzeit erlebt das überwiegend anarchistisch-geprägte China eine Renaissance des Glaubens, in der sich religiöse Gemeinschaften bilden (Ludwig 2009, S.152ff.). Studien ergeben, dass zwischen 10% bis 30% der Chinesen religiös sind (ebd.). Insbesondere die islamische Religion wird als Kultur wahrgenommen (ebd., S.96). Als religiöse Gruppe chinesischer Moslems gelten die Hui zu den anerkannten, nationalen Minderheiten (ebd., S.152). Um ihre Religion zu legitimieren, klammern sich muslimische Chinesen an der Legende, dass der Prophet Sa’d b. Abi Waqqas in der Tang-Dynastie den Islam nach China gebracht hätte; doch lässt sich die Ausbreitung des Islams durch die Migration von Händlern im 7. Jahrhundert und des Weiteren durch die mongolische Eroberung ab 1219 verorten (Drewes 2016, S.29ff.). Die Ming-Dynastie von 1368-1644 habe die religiösen Minderheiten assimiliert und muslimische Elemente aufgenommen; es entstand eine Kombination aus Islam & Konfuzianismus (ebd., S.32). In der Religionspolitik des 20. Jahrhunderts wurden Religionen oft unterdrückt, eingeschränkt und verboten; erst nach der Kulturrevolution seit 1979 wurden sie trotz Regulierungen wieder liberalisiert (ebd., S.72ff.), solange sie im privaten Bereich praktiziert werden (ebd., S.52). Die Uiguren in Xinjiang erfahren hingegen strenge Einschränkungen (ebd., S.72ff.). 

Politischer Umgang mit Minderheiten & Vielfalt

Einerseits fördert China seine Minderheiten staatlich und befördert gleichzeitig Pluralität. Ethnische Minderheiten, sofern sie anerkannt sind, genießen bestimmte Privilegien, wie zum Beispiel zahlen sie weniger Steuern und bekommen bessere Chancen auf Studien- & Ausbildungsplätze (Ludwig 2009, S.40ff.; Drewes 2016, S.52ff.). Auch ist die Regierung nachsichtig bei Straftaten (Ludwig 2009, S.317). Darüber hinaus sind sie von der Ein-Kind-Politik befreit (ebd., S.40; Drewes 2016, S.52ff.). Deshalb bevorzugen einige Han-Chinesen die Heirat mit ethnischen Minderheiten (ebd.). Zudem fördert die Regierung lokale Gemeinschaften durch Schulen für das Erlernen der Sprache & der Schrift (ebd.), jedoch nicht immer im Sinne einer „wohlwollenden Vernachlässigung“ nach Kymlicka. Nichtsdestotrotz versucht die Kommunistische Partei Angehörige der Minderheiten in den Behörden & Administration zu integrieren, zumal überwiegend Han-Chinesen diese Stellen besetzen (ebd.). Auch können sie eine Parteikarriere anstreben (Ludwig 2009, S.45). In einer gewissen Weise werden ethnische Minderheiten positiv diskriminiert (ebd., S.40ff.). Sogar werden über negativ-konnotierte Minderheiten, wie zum Beispiel die Uiguren, positiv berichtet (Drewes 2016, S.307-308). Diese positive Propaganda verhindert die mediale Kriminalisierung der Uiguren und lenkt die öffentliche Meinung weg von empfindlichen Themen, wie zum Beispiel von bestimmten Unruhen oder Attentaten, für die Minderheiten oft verantwortlich gemacht werden (ebd., S.208). Im Falle der Uiguren beschreiben die Medien den Islam & die kulturellen Besonderheiten positiv und achten auf political correctness (ebd.). Dies bewirkt eine wertfreie Darstellung der Muslime in der chinesischen Bevölkerung; im Vergleich zu Deutschland werden Muslime nicht mit Gewalt assoziiert (ebd., S.182ff.). Kulturelle Vielfalt wird ebenfalls gefördert, auch im Bildungsbereich (Ludwig 2009, S.42ff.). Der Staat errichtete 1959 einen Kulturpalast der Nationalitäten für Kunst, Kultur, Traditionen der Nationalitäten (ebd.).

Andererseits sind ethnische Minderheiten der Willkür des Staates ausgesetzt. Die Kommunistische Partei ist den religiösen sowie ethnischen Institutionen übergeordnet, weshalb ein Autonomiegesetz für Minderheiten nur bedingt in Anspruch genommen werden kann (Ludwig 2009, S.49; Drewes 2016, S.52). Die Regierung behält die Deutungshoheit über die Identifikation „gesunder“ & „ungesunder“ Traditionen und verfolgt Angehörige bestimmter Traditionen (Ludwig 2009, S.49). So wurde dem tibetischen Nomadentum ein Ende gesetzt, da sie Weideflächen zerstören würden; daraufhin zwang die chinesische Regierung von 2006 bis 2009 über 300.000 Nomaden zur Sesshaftigkeit (ebd., S.50). 

Beide Strategien beinhalten zwei entgegengesetzte Intentionen. Will China Pluralität beseitigen und ethnische Minderheiten assimilieren, oder ist Chinas Förderpolitik ein Zeichen für die Wiedergutmachung nach den Phasen „Großer Sprung nach vorn“ (1958-1962) und „Kulturrevolution“ (1966-1976), in denen traditionelle sowie religiöse Elemente zu Gunsten eines neuen, revolutionären Menschen zerstört wurden (Ludwig 2009, S.46ff.)? Soziale Harmonisierung durch Propaganda und die Einschränkung vieler Minderheiten sei unerfolgreich (Drewes 2016, S.318-319). Stattdessen solle China Gleichberechtigung, Integration sowie die Zusammenarbeit der ethnischen Gruppen fördern (ebd.).

Multikulturalismus missverstanden?

In diesem Kapitel behandle ich die Frage, ob der (liberale) Multikulturalismus als normative Theorie vielleicht missverstanden wurde. Im Hinblick auf die Multipräsenz der ethnischen Gruppen in China besitzt der Multikulturalismus einige Herausforderungen, die ich im Folgenden kurz darstellen werde. Anhand des Beispiels in China sei das Ziel des Kapitels das Forschungsfeld zu öffnen und auf konkrete Problematiken einzugehen. 

Kampf der Identitäten

In dieser Hausarbeit habe ich bereits das Homogenitätsmodell ursprünglich von Herder als Basis des Kulturverständnisses für die Auslegung des Multikulturalismus widerlegt; Kulturen & Identitäten sind inhärent dynamisch & heterogen, auch wenn sie aus strategischen Gründen bewusst homogen vermittelt werden, um Massen zu mobilisieren. Die chinesische Regierung inszeniert eine chinesische Identität bewusst als politisches Mittel gegen den Westen & die Verwestlichungsprozesse (Gruschke 2017, S.58ff.). Während die Regierung kulturelle Sicherheit nach außen betreibt, fragt Andreas Gruschke nach der kulturellen Inklusion nach innen (ebd.). The Stanford Encyclopedia of Philosophy erkannte bereits richtig, dass Multikulturalismus eine politisch-spezielle Umgangsform sei, mit Minderheiten umzugehen, und die Bedingungen für eine Integration zu verbessern. Doch die meisten Definitionen des Multikulturalismus nehmen das Feld unterschiedlicher Identitäten im Nationalstaat als Kampf wahr, den es zu schlichten gilt. Durch die Problematisierung der Identitäten in der Heuristik des Multikulturalismus nach Reckwitz würde die Radikalisierung der Identitätsprozesse provisorisch verhindert werden. Der Multikulturalismus muss also schon vor dem „Kampf der Identitäten“ eingreifen. 

Kulturerhalt & Kommodifizierung

Gruschke erwähnt, dass die chinesische Regierung die materielle statt der immateriellen Kultur fördert (Gruschke 2017, S.45). So wird die kulturelle Vielfalt unter ökonomischen Gesichtspunkten akkumuliert, privatisiert und als touristische Ressource benutzt, während ethnische Untergruppen mitsamt ihren Werten & dem historischen Erbgut wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird (ebd.). Angesichts der Faszination für „exotische“ Rituale besitzt China einen ausgeprägten Nationalitäten- & Minderheiten-Tourismus (Ludwig 2009, S.57-58ff.). Kulturelle Praxen & Rituale ethnischer Minderheiten werden zur Schau gestellt, vermarktet und zweckentfremdet (ebd.). Das Wasserfest der Dai in Xishuangbanna wird zum Beispiel als jährliches Fest aus Tourismus-Gründen täglich aufgeführt und Minderheitendörfer dienen als Souvenirshops (ebd.). Auch die tibetischen Himmelsbestattung der Toten, bei denen die Körper zerstückelt und verbrannt werden, wurde zum Schauertourismus sowohl für chinesische als auch für westliche Touristen; ursprünglich wurde die spirituelle, buddhistische Bestattung in Würde & Respekt fernab praktiziert (ebd.). Nicht zuletzt entwickelte sich die Gemeinschaft der Mosuo, aufgrund ihres offenen Umgangs mit der Sexualität, zum Anbieter für Sextourismus, bei dem überwiegend Jugendliche in Freudenhäusern ihre ersten Erfahrungen machen können (ebd.). Die ethnische Minderheit der Mosuo ließ sich durch die finanzielle Nische verlocken und prostituieren (ebd.). Diese Beispiele für die Kommodifizierung der Kultur befördern eine Umdeutung der ethnischen Minderheiten. Traditionelle Völker unterliegen dem Prozess einer „Disneylandisierung“ und werden auf unterhaltsame Begegnungen reduziert (Drewes 2016, S.64). Das Machtgefälle zwischen Han-Chinesen und vereinzelten ethnischen Minderheiten manifestiert sich im Blick; Minderheiten werden oft im Kontrast zur Zivilisation nach evolutionistischen Prinzipien als Wildheit romantisiert und aufgrund ihrer Nacktheit erotisiert (ebd., S.65). 

Die Sonderbehandlung der ethnischen Minderheiten sowie der Kulturerhalt im Rahmen des normativen Multikulturalismus scheint hier in die falsche Richtung gegangen zu sein. Kann der Multikulturalismus zwischen einer Kommodifizierung und einem würdevollen Kulturerhalt unterscheiden? Wie lässt sich im Multikulturalismus ein Dialog auf Augenhöhe erschaffen? Wie wird Respekt gemessen?

Orientalismus & Diskriminierung

Der Begriff „Orientalismus“ stammt von Edward Said; er beschreibt die Stigmatisierung und (Re)Konstruktion einer fremden Kultur und bezieht sich oft auf die Kultur im Orient (Said 2019). Miteinbegriffen ist die Anmaßung des Betrachters die fremde Kultur auf Stereotype zu reduzieren; dies signalisiert ein Machtgefälle zwischen BetrachterInnen und den Fremden (ebd.). Auch im Hinblick auf die Kommodifizierung der Kultur verfremdet die chinesische Bevölkerung interne und externe Minderheiten, wie zum Beispiel die ethnische Gruppe der Uiguren. Die chinesische Mehrheit betrachtet die Minderheiten nicht mehr auf Augenhöhe und verfremdet sie. Nicht selten führen die Wertvorstellungen der Mehrheit zu einem erhöhten Assimilationsdruck. Obwohl ethnische Minderheiten oft im Alltag sowie im Arbeitsleben diskriminiert werden, ist der Effekt einer Stigmatisierung der islamischen Kultur nach Angaben von Frauke Drewes nicht allzu groß, weil der Staat mit positiver Propaganda das Image bestimmter ethnischer Gruppen anregt (vgl. Drewes 2016, S.213-214). 

An dieser Stelle sei angemerkt, dass die chinesische Regierung die Religion des Islams für wirtschaftliche Zwecke als „internationale Brücke“ zu arabischen Ländern befördert (Drewes 2016, S.361-363). Da die Uiguren aus dem turksprachigen Raum kommen, nimmt der Schutz der muslimischen Uiguren keinen so hohen Stellenwert bei der Förderungspolitik ein; die guten Beziehungen zur ethnischen Minderheit der Hui werden hingegen für die Außenpolitik instrumentalisiert (ebd.). Spielt die Motivation für den normativen Multikulturalismus eine Rolle? Nach der europäischen Deontologie werden Handlungen nach der Absicht der AkteurInnen bewertet. Wenn die chinesische Regierung die Intention hat wirtschaftliche Beziehungen zu pflegen, ist der instrumentalisierte & inszenierte Multikulturalismus überhaupt intrinsisch richtig?

Politisierung statt Kulturalisierung

Der Professor für Soziologie an der Universität Beijing Ma Rong gehört der ethnischen Minderheit der Hui an; er unterscheidet zwischen den Begriffen einer „politischen Nation“ und einer „ethnischen Gruppierung“ (Drewes 2016, S.57ff.). Ethnische Minderheiten werden in China auf missverständlicher Weise als politische Gruppierung wahrgenommen, zumal sie durch den Westen eine Art politisches Bewusstsein erlangen (ebd.). China erlaubt Individualismus in Form von kulturellen sowie religiösen Praxen in der privaten Sphäre; allerdings verbietet der Staat jegliche Form von Politisierung. Der Multikulturalismus könne in China ohne Probleme adaptiert werden, doch Politisierung führt zu unerwünschten Spannungen, dessen Risiko die Kommunistische Partei nicht tragen möchte. Ma Rong plädiert für eine Rückbesinnung auf eine Kulturalisierung ethnischer Gruppen außerhalb der politischen Sphäre (Drewes 2016, S.57ff.). 

Durch die Politisierung der ethnischen Minderheit der Uiguren entsteht ein problematischer Teufelskreis: die Uiguren fühlen sich diskriminiert, protestieren und lösen ein Bedrohungsgefühl bei der Regierung aus, weshalb die Regierung mit Gewalt reagiert, was wiederum die Uiguren bedroht und ein Zusammengehörigkeitsgefühl befördert (Drewes 2016, S.252). Dies führt zu einer Isolation & Diskriminierung und so schließt sich der Kreis (ebd.).

Negative Seiten positiver Diskriminierung

Der Multikulturalismus schlägt in der normativen Philosophie vor, dass benachteiligte Minderheiten im Vergleich zur Mehrheitsbevölkerung bestimmte Privilegien bekommen sollten. In der Praxis wird eine derartig positive Diskriminierung jedoch negativ bewertet, denn sie ist der Ausgangspunkt für interethnische Spannungen (Drewes 2016, S.214-215). Unter anderem betrachtet Wang Yingguo die Förderpolitik als Hindernis für die Bildung einer gemeinsamen, chinesischen Identität; aus der Sonderstellung der Minderheiten würde ein Separatismus resultieren (ebd., S.59). Auch Ma Rong befürwortet die Abschaffung der Minderheitenrechte, um einen Individuum-orientierten, liberalen Pluralismus zu begünstigen (ebd., S.57). 

Multikulturalismus als Integrationspolitik

Angesichts der Problematiken, wie kann Multikulturalismus funktionieren? Natürlich gibt es kein universelles Erfolgsrezept für den Umgang mit Pluralität; in China würde es andere Art und Weisen geben als im Westen. Dennoch lassen sich einige gewinnbringende Methoden herauskristallisieren. Im Folgenden gebe ich zwei Beispiele.

Individuum-orientiert & Menschenrechte

Lutz Götze kritisiert die Konzepte der postmodernen Kulturtheorien (Götze 2009, S.329). Da sich Kultur-Konzepte intensiv mit der Hybridität und Transkulturalität auseinandersetzen, würden den bedeutungsorientierten Kulturbegriffen eine Wertorientierung bzw. Normativität fehlen (ebd.). EthnologInnen pflegen zu sagen, dass die Welt von der Vermischung der Kulturen geprägt sei und durch Migration ständig Grenzen überwunden werden, doch in Bezug auf den Multikulturalismus gäbe es keinen Lösungsvorschlag für die Überwindung sozialer Spannungen und kultureller Konflikte (ebd.). Deshalb plädiert Götze für Menschenrechte als Fundament für die Auslegung des Multikulturalismus (ebd., S.330ff.). Auf der Ebene der Individuen solle der Staat zunächst die Rechte der einzelnen BürgerInnen schützen, um eine Diskursplattform auf Augenhöhe zu erschaffen, auf der alle Kulturen gleichwertig verstanden werden (ebd.). Eine Kritik am liberalen Multikulturalismus sei unter anderem, dass der Staat gerade nicht den verschiedenen ethnischen Gruppen Schutz garantieren sollte, sondern den Individuen; das wäre ja der ursprüngliche Sinn des Liberalismus (Song 2020). 

Obwohl die politischen & bürgerlichen Menschenrechte in China nach 30 Jahren Reformpolitik stets anerkannt seien, dennoch nicht die gleiche Priorität gewinnen, wie das Beharren der chinesischen Regierung auf nationaler Souveränität, dürfen kulturelle Bräuche im privaten Bereich meist ohne Einschränkungen ausgelebt werden (vgl. Krumbein 2010, S.311 & 320ff.). Da sich das totalitäre System unter der Führung der Kommunistischen Partei zu einem autoritären marktwirtschaftlich-orientierten System gewandelt hat, sei China natürlich pluralistischer und offener geworden (ebd.). Trotz des staatlichen Misstrauens gegenüber religiösen Institutionen und der Willkür der Gesetzesauslegungen habe die Meinungsfreiheit in der privaten Sphäre zugenommen; die chinesische Regierung gibt zum Beispiel im Internet Raum für einen kritischen Diskurs über soziale & politische Missstände sowie für die freie Entfaltung marginalisierter Gruppen, wie zum Beispiel für homosexuelle Chinesen (ebd.). So denke ich, dass die Absenz der Menschenrechte für ethnische Minderheiten in China automatisch in einen radikalen Widerstand und eine Gegenkultur mündet. Durch die Benachteiligung & Diskriminierung können sich Gemeinschaften in Form von „imagined communities“ bilden (Anderson 1991). Deshalb seien Menschenrechte eine gute Basis, Raum für kulturelle Bedürfnisse zu geben.

Transkultureller Dialog

Ganz offensichtlich sei der Multikulturalismus als richtige Integrationspolitik, also als „gesellschaftliche Praxis der Interaktion“ zu begreifen (Hoerder 1995, S.61). Ziele des Multikulturalismus seien erstens Chancengleichheit & der Respekt für alle ethnischen Kulturen zu garantieren, zweitens eine Akkulturation, statt einer Assimilierung anzustreben, sowie drittens Integrationsangebote bereitzustellen, um strukturelle Barrieren abzuschaffen (ebd., S.61-62). Akkulturation sei die gegenseitige Aneignung kultureller Werte. Dabei sollen die Minderheiten, insbesondere MigrantInnen, das Tempo der Annäherung an die Gastkultur bestimmen (ebd., S.62). Denn Zwänge & Diskriminierung seien kontraproduktiv und würden Akkulturationsprozesse hemmen (ebd.). Migration würde gesellschaftliche Veränderungen beschleunigen und bedarf einer Verarbeitung kultureller Unterschiede in Form eines transkulturellen Diskurses. Die Angst vor einem Kulturverlust bei MigrantInnen sowie die Angst vor einer vermeintlichen Überfremdung bei den einheimischen BürgerInnen resultiere aus dem Tempo und der Überforderung durch die Annäherungsprozesse (ebd., S.65). Nach Hoerder werden die Umformungsprozesse und die zweite Sozialisation der MigrantInnen in die Gastkultur als Isolation & Ablehnung missverstanden (ebd.). Darüber hinaus würde man auf missverständlicher Weise Assimilation und Pluralität normativ gegenüberstellen (ebd., S.66). Doch Integration sei das Verstehen gegenseitiger Differenzen durch einen inszenierten Dialog zwischen mehreren Gruppen zur Überwindung der Skepsis (ebd., S.67ff.). China meidet den transkulturellen Dialog und prekäre Situationen, was der Regierung zum Verhängnis wird. Die Respektierung der Autonomiegesetze für ethnische Minderheiten wäre der erste Schritt für die Selbstbestimmung der Gruppierungen, um eine kulturelle Annäherung an China zu finden, sofern die Minderheiten durch die staatliche Indoktrination nicht schon traumatisiert wurden.

Fazit

Den Begriff des Multikulturalismus umgibt im Verlauf der Hausarbeit eine gewisse Unschärfe. Ausgehend von der theoretischen Problematik des Kulturbegriffs fehlt ihm eine normative Auslegung, die durch die Menschenrechte ergänzt werden können. China ist ein Vielvölkerstaat, wirkt durch die Nationsbildung nach außen homogen, ist aber faktisch heterogen. In der chinesischen Praxis bilden die Politisierung, die Kommodifizierung, der Orientalismus sowie die negativen Seiten positiver Diskriminierung Herausforderungen für den Multikulturalismus. Dass die Vielfalt der Identitäten als Kampf interpretiert wird, zeigt einen falschen Angriffspunkt des Multikulturalismus. Stattdessen müsse sich der Multikulturalismus auf die Integrationspolitik fokussieren, bei der die Menschenrechte sowie der transkulturelle Diskurs eine wichtige Rolle spielen. 

Auf der einen Seite zeigt die Hausarbeit, dass der normative Multikulturalismus praktisch nicht umsetzbar ist. Seine mangelhafte Methodik scheitert am Kulturbegriff und des Weiteren an praktischen Situationen, zumal der Begriff mit unzähligen, normativen Erwartungen verbunden ist. Auf der anderen Seite präsentiert die Hausarbeit konstruktiv zwei essenzielle Kernelemente für eine erfolgreiche Integration von ethnischen Minderheiten. Solange die methodischen Probleme nicht gelöst werden und das praktische Anwendungsfeld für den Multikulturalismus nicht gefunden wird, bleibt der Multikulturalismus wohl eine Utopie. 

Schluss

Die satirische Nachrichtenagentur „Der Postillon“ verkauft ein sogenanntes Minderheiten-Quartett. Bei diesem Spiel kann man „60 Minderheiten in den Kategorien Intelligenz, Einkommen, Medienpräsenz, Sexappeal und Aufdringlichkeit gegeneinander aus[spielen]“ und „das Wirrwar von Identitäten in übersichtliche Stereotype [sortieren]“ (Shopillon 2022). Dem Postillon ist durchaus bewusst, wie zynisch ihr Produkt ist. Wenn die Identifikation von Minderheiten nach den ebengenannten Parametern so einfach wäre, würde ich keine Kulturwissenschaft studieren. Nichtsdestotrotz scheint der Multikulturalismus-Begriff nach Kymlicka und Taylor genau diese Verallgemeinerung der ethnischen Minderheiten darzustellen. Noch ist der Multikulturalismus sehr realitätsfern. 

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