Die narrative Struktur der Heldenreise nach Joseph Campbell
Die narrative Struktur der Heldenreise nach Joseph Campbell

Die narrative Struktur der Heldenreise nach Joseph Campbell

In diesem Artikel fasse ich Joseph Campbells Heldenreise zusammen. Das Literaturverzeichnis befindet sich im Pdf. Alle Beitragsbilder wurden von Dal-E generiert. (Im Folgenden werde ich den Begriff der Heldenreise nicht gendern.)

Joseph Campbell analysierte zahlreiche Mythen der Welt und erkannte in ihnen die Grundzüge der Heldenreise. Sie bildet eine der bekanntesten narrativen Strukturen der Menschheit. Auf Campbells Buch „Der Heros in tausend Gestalten“ wird in der (wissenschaftlichen) Literatur sehr oft Bezug genommen, unter anderem aufgrund der erstaunlichen, kulturübergreifenden Universalität der Struktur und im Hinblick auf den Einfluss auf die heutige Fiktion. Die klassische Heldenreise erfuhr in der Unterhaltungsindustrie ein paar Adaptionen und etablierte sich so zu einem kommerziellen Erfolgsrezept für das Schreiben neuer Geschichten. 

Die Abenteuerfahrt in Mythen lässt sich folgendermaßen generalisieren und zusammenfassen: Held:innen starten ihre Reise aus ihrer Heimat. „Die Mythen und Sagen der ganzen Welt legen übereinstimmend Zeugnis ab dafür, daß die Weigerung wesentlich in der Hartnäckigkeit des Individuums besteht, das nicht fahren lassen will, was es für sein eigenes Interesse hält.“ (Campbell 1978, S. 64) – so meint Campbell, dass Held:innen an den bisherigen Idealen der Gesellschaft festhalten und die dynamische Zukunft als Bedrohung wahrnehmen (Campbell 1978, S. 64). Schließlich werden Held:innen gerufen und durch die übernatürliche Hilfe einer symbolischen Figur motiviert, sich in Bewegung zu setzen (Campbell 1978, S. 72–75). Daraufhin überschreiten sie die Schwelle ihres bekannten Horizonts in eine ihnen fremde Welt (Campbell 1978, S. 79–83). Der Grenzübergang wird meistens von Wächter:innen bewacht (Campbell 1978, S. 79–83). Die Reise in die fremde Welt gilt als Herausforderung für die Held:innen; sie müssen im Unbekannten Prüfungen absolvieren und das „Böse“ bezwingen (Campbell 1978, S. 83). Das Überschreiten der Grenzen versteht Campbell als die Befreiung von der eigenen Person sowie die Überwindung des Ichs, das vernichtet und anschließend mit neuer Kraft „wiedergeboren“ wird (Campbell 1978, S. 91–93). Durch die „Wiedergeburt“ und die Überwindung des Nichtwissens werden Held:innen sogar Gott-ähnlich (Apotheose) (Campbell 1978, S. 145–156). Mit dem Segen von übernatürlichen Kräften und nach dem Erhalt einer Trophäe flüchten sie wieder zurück über die Grenze in die Gesellschaft der Heimat und bringen ein sogenanntes Elixier mit, um die Gesellschaftsgruppe zu erneuern (Campbell 1978, S. 188–194). So schließt sich der Kreis (vgl. Campbell 1978, S. 237).

Campbell behauptet, dass ein schlichtes, biographisches Portrait oder wissenschaftliche Texte die Poesie der Mythen ersticken würde, indem das lebende Element der Geschichten durch Fakten objektiviert wird, sodass die Werte einer Gemeinschaft nicht weiter propagiert werden (Campbell 1978, S. 241). Mythen vermitteln über das Medium der Symbole eine Botschaft (Campbell 1978, S. 227). Das Ziel der (auch religiösen) Mythen bestand darin, Held:innen aufgrund ihrer Besonderheiten zu befördern und die Wertvorstellungen der Gemeinschaft zu zelebrieren (Campbell 1978, S. 228), nicht jedoch den Individualismus oder die Individuation einer jeden Person zu motivieren (Campbell 1978, S. 229). Die Held:innen der Mythen sind keine menschlichen Wesen, sondern sind von Geburt an vorherbestimmt (Campbell 1978, S. 303); sie bilden mitsamt ihren göttlichen Eigenschaften ein ideales, symbolisches Vorbild für die Gesellschaft (Campbell 1978, S. 304). Dabei seien Held:innen die sogenannten „Vorkämpfer[:innen] der werdenden Dinge“ – also besitzen oder besaßen sie zu ihrer Zeit eine Zukunftskomponente und bekämpften den Status-quo (Campbell 1978, S. 322). So beschreiben zum Beispiel Erlöserlegenden eine Periode der Verzweiflung durch moralisches Versagen und anschließend die Überwindung der Vergangenheit (Campbell 1978, S. 338). Versuchten ErzählerInnen mithilfe antiker Mythen den Übergang der Herrschaft des Vaters zum Sohn zu rechtfertigen, indem sie reale Begebenheiten in mythische Erzählungsformen transponierten und die neue Gesellschaftsordnung durch die Form einer Heldenreise bestätigten? (vgl. Campbell 1978, S. 338–370) Und wie kann man das besser tun, als z.B. den Sohn in den Mythen zum Gott zu erheben und über seinen Gott-gewollten Herrschaftsauftrag aufzuklären.

Es gilt als akademischer Witz, dass Nietzsche Gott getötet hat. Campbell identifiziert einen Wandel in Bezug auf die Mythen sowie der Art und Weise, wie Geschichten in der heutigen Zeit funktionieren. Obwohl die narrative Struktur der Heldenreise eines der erfolgreichsten Rezepte der Unterhaltungsindustrie ist, wird eines der gravierendsten Unterschiede zwischen antiken Mythen und Geschichten der Postmoderne in Campbells Werk meist überlesen (vgl. z.B. Snyder 2021, S. 133): heute geht es um das Individuum, nicht mehr um das Kollektiv (Campbell 1978, S. 370–374). Das Individuum bekommt die Aufklärungsfunktion für die Gesellschaft! Campbell konkludiert: „Und so teilt jeder von uns das höchste Gottesgericht und trägt das Kreuz des Erlösers – nicht in den Augenblicken großer Stammessige, sondern im Schweigen seiner einsamen Verzweiflung.“ (Campbell 1978, S. 375) Dies zeigt, dass auch kulturell determinierte Wissenssysteme und Werte nicht in Stein eingemeißelt sind, sondern sich im Laufe der Zeit wandeln.