Heiligt der Zweck die Mittel?
Heiligt der Zweck die Mittel?

Heiligt der Zweck die Mittel?

Heiligt der Zweck die Mittel? – Am Beispiel „The Good Woman of Bangkok”

Dieser Essay entstand im WiSe23/24 Rahmen des Seminars „Grundlagen ethnologischer Filmtheorie“ unter der Leitung von Dr. Miriam Remter an der LMU. Quellen befinden sich im PDF.

Einleitung

Diese Hausarbeit behandelt das Thema „dokumentarische Fiktion“ im Kontext der Kontroverse und gelegentlich irreführender Kritik bezüglich der Frage, ob der Zweck des Films „The Good Woman of Bangkok“ (GWB) von Dennis O’Rourke die verwendeten Mittel rechtfertigt. Nach einer kommentierten Zusammenfassung des Films analysiere ich die öffentliche Kontroverse und Kritik im Hinblick auf die Anwendung traditioneller und veralteter Forschungsmethoden der Anthropologie sowie auf ethische Richtlinien. Anschließend werden O’Rourkes Absichten dargestellt, insbesondere die Betonung der Subjektivität des Filmemachers und die Erläuterung des Konzepts der „dokumentarischen Fiktion“, bevor die zentrale Fragestellung der Arbeit beantwortet wird. Das Ziel der Arbeit besteht darin, Erkenntnisse über die Merkmale des provokativen Dokumentarfilms zu gewinnen.

Kommentierte Zusammenfassung

Dennis O’Rourkes Dokumentarfilm „The Good Woman of Bangkok“ handelt im Rahmen einer Forschung um die Möglichkeit der Liebe im Kontext der thailändischen Sexökonomie von der Beziehung zwischen dem Filmemacher und Aoi, einer thailändischen Prostituierten in Bangkok. (Aoi wird im Abspann mit dem Namen Yaiwalak Chonchanakun erwähnt.) Mit dem erfundenen Label „dokumentarische Fiktion“ erwirbt der Film mit einem vermeintlichen Wahrheitsanspruch die (fehlgeleitete) Erwartung auf traditionelle, dokumentarische Inhalte. Diesen Eindruck beschafft sich der Film durch die Verwendung einiger Elemente aus der Strömung des Cinéma Vérité und einer vermeintlichen Offenlegung der Forschungsbedingungen.

In einer Peripherie, die als „North East Thailand“ betitelt wird, stellt ihre Tante die Protagonistin Aoi vor. Im Verlauf des Filmes wird ihr Profil mit Informationen ergänzt: Aoi habe ein Kind aus einer gescheiterten Ehe, Familienschulden von ihrem verstorbenen Vater und eine Mutter, die auf finanzielle Hilfe angewiesen ist. Im Anschluss berichtet der Vorspann das Forschungsunternehmen des sogenannten „Filmemachers“ aus Australien, der nach einer getrennten Ehe die Potentialität der Liebe in einem Prostitutionsverhältnis explorieren möchte. Ein belebtes Rotlichtviertel Bangkoks wird bei Nacht gezeigt und mit der Musik der Aria Di Madama Lucilla Kv583 „Vado, Ma Dove ? O Die!“ unterlegt (0:04:50 – 0:07:41); diese Arie erscheint nochmals in einer Taxifahrt (0:41:00 – 0:43:36) und im Abspann (1:18:24 – 1:21:21). Ein zweiter Vorspann kommentiert, dass der Filmemacher vergleichbar mit all den anderen Männern in Bangkok ein Verhältnis zwischen Prostituierten und Kunden eingeht. In einem Interviewausschnitt erzählt Aoi von ihrem Schicksal und dass ein Selbstmord als sozial verpönt gilt (0:08:30 – 0:09:23); dies wird im Abspann nochmals wiederholt (1:18:24 – 1:18:49). O’Rourke versteht „Schicksal“ in Bezug auf den Buddhismus, bei dem ein Selbstmord schlechtes Karma im nächsten Leben bringt (O’Rourke 1993, 116), doch kreiert er unweigerlich auch die Interpretationsweise der sozioökonomischen Ausweglosigkeit Aois als Sexobjekt & Opfer des imperialen Kapitalismus (Shimakawa 1995, 144; Rieker 1993).

Im Anschluss folgt die kontrovers-diskutierte Hotelbettszene, in der der Filmemacher eine in Handtuch eingewickelte Prostituierte abfilmt, wie sie versucht sich zuzudecken, um dem Blick der Kamera („gaze“) zu entkommen (0:10:34 – 0:11:24), oder eine andere Hotelbettszene, in der eine Prostituierte zugedeckt schläft (0:58:41). Diese Szenen thematisieren ein beständiges Machtgefälle zwischen (meist) westlichen Sextouristen & den Prostituiertinnen, parallel zum problematischen Verhältnis zwischen Forscher:innen & ihren Forschungssubjekten in der Anthropologie (Shimakawa 1995, 137; O’Rourke 2006, 210; Geiger 1998, 13). Dieses Machtgefälle zieht sich durch den ganzen Film, wobei westliche Touristen in Bars die Entscheidung treffen (können), gefilmt zu werden oder Widerspruch einzulegen (vgl. 0:26:14), und thailändische Prostituiertinnen dem Blick der Kamera schutzlos ausgeliefert sind. Der Filmemacher nimmt sich dieser Verhältnisse vollständig an: er dokumentiert nicht nur intrusiv Prostituierte im Schminkraum hinter den Kulissen (u.a. 0:35:41), sondern auch abseits des filmischen Projektrahmens auch private Alltagssituationen, z.B. in denen Aoi isst und sich ironisch über das konstante Filmen beschwert (0:18:37 – 0:19:41). Auch diese einfache Szene wirkt für Zuschauer:innen ungemütlich, weil der Filmemacher die Privatsphäre penetriert und seine Autoritätsposition behält (Shimakawa 1995, 137; Geiger 1998, 14).

Der Film wechselt zwischen dem Barleben, Interviews mit betrunkenen Touristen sowie persönlichen Gesprächen mit Aoi oder der Tante. Im Film lässt sich dabei folgende Spannungssteigerung erkennen: Zuerst sprechen Aoi und ihre Freundin emotionslos, rational über den Geschlechtsverkehr mit internationalen Männern und ihre Bezahlung (0:12:54 – 0:15:39), später klagt Aoi darüber, wie sie Klienten hasst (0:44:40 – 0:46:53), bis sie darüber schimpft, dass sie Männer hasst (1:05:10 – 1:06:07), und zum Schluss kritisiere sie alle Männer auf der Welt (1:16:23 – 1:18:06). Simultan versucht der Filmemacher in das Geschehen einzugreifen und bietet Aoi sowie ihrer Familie zur ökonomischen Unabhängigkeit ein Reisfeld in der Peripherie an, unter der Bedingung, dass sie mit ihrer Sexarbeit aufhöre (u.a. 1:09:23 – 1:13:04). Im Abspann berichtet O’Rourke, dass er das Reisfeld übergab und nach einem Jahr nach Thailand zurückkehrte, um festzustellen, dass Aoi wieder angefangen habe als Prostituierte zu arbeiten (1:18:30 – 1:21:33). O’Rourke beschreibt den Film als „a metaphor for capitalism, here played out across the borders of race and culture, and about prostitution as a metaphor for all relations between men and women” (O’Rourke 1991).

Kontroverse & Kritik als Endpunkt

Dieses Kapitel hebt zwei Aspekte der öffentlichen Empörung zum Film GWB hervor. Im Folgende fokussiere ich mich auf den Vorwurf, dass O’Rourke für seinen Film veraltete, traditionelle Forschungsmethoden der Anthropologie verwendet, und auf Beschwerden hinsichtlich einer vermeintlichen Verletzung ethischer Standards.

Replikation der traditionellen Forschungsmethoden der Anthropologie

Rieker fragt nach einer Möglichkeit einer postmodernen, postkolonialen Darstellung der Inhalte außerhalb des modernen Narrativs der Aufklärung (Rieker 1993, 118). Rieker und Shimakawa kritisieren, dass O’Rourke im Film GWB die traditionellen, kolonialen, eurozentrischen modernen Methoden der Anthropologie auf einer unreflektierten & unbewussten Weise repliziert, wodurch er die kapitalistische Moderne legitimieren würde (Rieker 1993, 118; Shimakawa 1995, 129 ff.): O’Rourke würde seine Ausgangssituation nicht reflektieren, dass er als Filmemacher mit(hilfe) seiner Merkmale wie Sex, Gender, Klasse, Rasse über epistemische Autorität verfügt (Rieker 1993, 121; Shimakawa 1995, 132, 139 ff.). Rieker behauptet, dass O’Rourke versuchte, Aoi als subalterne Person, durch ein traditionelles Paradigma der Anthropologie zu repräsentieren und eine Stimme zu geben (Rieker 1993, 116–17). Im Hinblick auf die „giving voice“-Problematik (Spivak 2003), scheint der Filmemacher die Quasi-Rolle eines kolonialen Missionars einzunehmen, der das Geschenk der Technologie zum Zwecke der Repräsentation mitbringt (vgl. Geiger 1998, 12, 17). Dieser Prozess geschieht nicht auf Augenhöhe (vgl. Rieker 1993, 119). Aoi bliebe immer nur im bestimmten Rahmen des Filmemachers, denn Aoi wirkt aus dem Kontext gerissen, wird zum Schweigen gebracht und bestätigt nur das Weltbild von O’Rourke (Rieker 1993, 119, 121). Dabei verwendet er ein Narrativ des Helfens, das für sich problematisch ist, weil es einen neokolonialen Beigeschmack induziert (Rieker 1993, 120; Shimakawa 1995, 138, 141). Des weiteren sucht O’Rourke nach einer „humanen Essenz“ in Aoi (Rieker 1993, 117–18), d.h. er würde mit veralteten Methoden auf eine anmaßende, überhebliche Art das Außen- & Innenleben von Aoi darstellen wollen (Rieker 1993, 119). Aus alldem wurde O’Rourke häufig vorgeworfen, dass sein Film GWB seine persönlichen Straftaten repräsentieren oder beweisen würde (O’Rourke 2006, 214).

Herausforderung an Ethik

Insbesondere in der wissenschaftlichen Disziplin der Anthropologie erlangt der Film GWB Aufmerksamkeit aufgrund von O’Rourkes experimentellem Ansatz der traditionellen Feldforschung, seiner Darstellung der generellen Problematik zwischen Beobachter:innen und Beobachteten sowie seines thematischen Schwerpunkts auf den (neo)kolonialen und kapitalistischen Verhältnissen zwischen westlichen Ländern und Ländern des globalen Südens (vgl. Lutkehaus und O’Rourke 1989, 425). Im Hinblick auf seine Präsenz & Teilnahme am Geschehen als Filmemacher wirkt sein Werk ethnographisch, allerdings widerspricht O’Rourke dem, zumal er skeptisch ist gegenüber jeglichen Labeln wie etwa dem „Dokumentarfilm“ (Lutkehaus und O’Rourke 1989, 425–26). Obwohl er in seinen Filmen oft die Rolle eines Anthropologen übernimmt und darüber hinaus die Sensibilitäten der Anthropologie befürwortet, identifiziert er sich selbst nicht als ethnographischer Filmemacher (vgl. Lutkehaus und O’Rourke 1989, 429, 433). Er meint, er habe selbst einen moralischen Zweck mit seinen Filmen (vgl. Lutkehaus und O’Rourke 1989, 433). Nicht nur will O’Rourke mit seinem Film die Konventionen des non-fiktionalen Films sowie den einhergehenden Realismus herausfordern (vgl. Lutkehaus und O’Rourke 1989, 425), sondern auch die Dysfunktionalität des moralischen & ethischen Kodex aufzeigen, hinter dem sich perverse Reporter oder Forscher:innen im Allgemeinen doch nur verstecken würden (O’Rourke 2006, 210; Stocks 2001).

Wenn weder O’Rourke noch sein Film GWB sich als ethnographisch ausgeben, sondern gerade fiktive Elemente beinhaltet, stellt sich die Frage, ob eine Analyse des Films mit einem ethischen Framework aus der Ethnologie sinnvoll ist und seinen Intentionen gerecht wird. Die Frankfurter Erklärung zur Ethik in der Ethnologie ist dabei so schwammig ausgelegt, dass sich O’Rourke gleichzeitig im & außerhalb des ethischen Framework bewegt (vgl. Hahn, Hornbacher, und Schönhuth 2008): Einerseits bringt er hinreichend Respekt der Kultur & Gesellschaft entgegen, berücksichtigt die Interessen der Informant:innen, bietet mit seinen Kommentaren ausreichende Transparenz über seinen Forschungsprozess, verwirklicht notwendige Reziprozität, indem er Yaiwalak Chonchanakun mit einem Reisfeld & finanziellen Mitteln entlohnt, und zielt mit seiner relevanten Kritik direkt in Schwarze (vgl. Hahn, Hornbacher, und Schönhuth 2008, 3). O’Rourke beteuert, dass der Entstehungsrahmen des Filmes kommuniziert & vereinbart wurde unter der Aufsicht einer thailändischen NGO für Frauen, die das Projekt finanziell unterstützte und sich um seine Aufenthaltsgenehmigung kümmerte (O’Rourke 1993, 116). Andererseits ist seine Form der filmischen Darstellung brutal, indem er ein authentisch-wirkendes Portrait eines (neo)kolonialen Filmemachers darstellt und Zuschauer:innen mit dem Label des Dokumentarfilms konfrontiert & verleitet, dass der Film „real“ / „non-fiktional“ ist. Im Hinblick auf ältere Standards der Ethik argumentiert O’Rourke darüber hinaus, dass die Konzepte wie das Einholen eines Einverständnisses der Subjekte („informed consent“) oder die gleichberechtigte Beziehung zwischen Subjekt & Filmemacher:in ein Mythos seien (Lutkehaus und O’Rourke 1989, 431).

Kritik als Ausgangspunkt

Rieker behauptet, dass O’Rourke impliziert, nach einem transzendentalen Liebesbegriff & humanistische Essenz in Aoi zu suchen, und traditionelle Forschungsmethoden der Anthropologen zu replizieren (Geiger 1998, 9–10). Stocks fragt: „Is he clever and creating a film pitched to create antagonism, and push the boundaries, or is he just sexist and his films reflects this?” (Stocks 2001).

O’Rourke erklärt, dass der Endpunkt der Kritik & Vorwürfe, gerade sein Ausgangspunkt des Filmes war (O’Rourke 2006, 215; 1993, 114): u.a. Rieker und Shimakawa setzen die Figur des Filmemachers mit O’Rourke als Person gleich (vgl. Rieker 1993; z.B. Shimakawa 1995, 130). Doch der sogenannte Filmemacher sei eine fiktive Charakter-Figur, genauso wie Aoi (O’Rourke 1993, 115, 117; Geiger 1998, 8). (Im bisherigen & weiteren Verlauf habe ich den Begriff des Filmemachers als Figur von O’Rourke als Person getrennt betrachtet.) Die eigentliche Frage ist, in welchem Verhältnis stehen O’Rourke und der Filmemacher zueinander? Diese Frage bleibt unbeantwortet.

„I created a character [Aoi], who you can only know through the film, who is a hero“, offenbart O’Rourke (Geiger 1998, 15). An anderer Stelle verrät er: „Without me there is no Aoi, there is no material, there is no film“ – Shimakawa interpretiert den Satz so, dass O’Rourke Aoi eine Stimme verleiht, wodurch sie existieren und am öffentlichen Diskurs teilnehmen kann (vgl. Shimakawa 1995, 145), doch hiermit liegt sie falsch. O’Rourke beschreibt seinen Film als „Work of fiction using real people playing roles based on their life experiences, as well as ‘documentary’ scenes”; dabei sei die Dramaturgie insziniert: „drama which is created” (O’Rourke 1993, 114). Das moralische Dilemma um das Angebot des Reisfeldes sei z.B. bewusst inszeniert (Geiger 1998, 16). So berichtet er, dass z.B. die kontroverse Hotelbett-Szene inszeniert und der Dreh mehrmals wiederholt wurde (O’Rourke 1993, 115). O’Rourke thematisiert den Voyeurismus und legt den Finger in die Wunde: „[the] desiring gaze upon the body of the other is the real concern of the film” (Geiger 1998, 13).

O’Rourke kritisiert mit GWB sowohl Sextouristen, die ihre perversen Fantasien imperialer, rassischer, sexueller Überlegenheit in Thailand ausspielen wollen, als auch Reporter, die durch eine künstliche Fassade sich von der Unmenschlichkeit distanziert zeigen, doch am Ende des Tages genauso in die Rolle der sexuellen Vergnügung zurückfallen (O’Rourke 2006, 210, 215). Dies bewerkstelligt er, indem er sich selbst als einer der vielen Männer ausgibt und somit das Handeln des Filmemachers direkt in Frage stellen kann (0:06:50 – 0:07:32).

Subjektivität & Rolle des Filmemachers

Bevor GWB erschien, stellte Lutkehaus in O’Rourkes Filmographie fest, dass sich seine Rolle als Filmemacher mit der Zeit gewandelt habe, von einem distanzierten, unsichtbaren Beobachter zu einer inkludierten Charakterfigur im Geschehen des Filmes (Lutkehaus und O’Rourke 1989, 434). In seinem vorherigen Film „Cannibal Tours“ (1988) ist O’Rourke als Person verbal sowie visuell präsent; dabei unterstreicht er seine subjektive Rolle als Künstler durch seine Teilnahme sowie Auswahl der Perspektiven (Lutkehaus und O’Rourke 1989, 426, 431). Diese Entwicklung kann ich in GWB bestätigen. Zwar bleibt er visuell unsichtbar, außer in der Taxiszene mit seinem dunklen Spiegelbild (0:04:18 – 0:04:40) (Shimakawa 1995, 136), doch O’Rourke als Filmemacher wird zum Geschichtenerzähler sowie Protagonisten (vgl. Lutkehaus und O’Rourke 1989, 429, 434).

Außerhalb des Rahmens der Interviews ist die Präsenz des Filmemachers den beobachteten Personen sehr wohl bewusst (vgl. Shimakawa 1995, 134): Einmal fragt die Tante Aoi, was er in Thailand macht (0:20:03), ein anderes Mal flüstern Prostituierte, dass sie gerade gefilmt werden (0:35:41), auch in der Bar mit dem niederländischen Touristen (0:15:54 – 0:16:57). Der Filmemacher ist nicht nur ständig präsent, er nimmt auch als teilnehmender Beobachter am Geschehen teil (Geiger 1998, 10; Shimakawa 1995, 135); er partizipiert im Alltag, wie z.B. stoßt er im Interview mit einem Bier an (0:50:46) oder unternimmt Ausflüge mit Aoi außerhalb ihrer Arbeitszeit (0:29:10 – 0:29:50). Interviewpartner:innen reagieren auch auf ihn persönlich, wie z.B. zelebrieren betrunkene Touristen aus Kameradschaft die australische Nationalität des Filmemachers (0:39:04) (Shimakawa 1995, 142).

Nach O’Rourke gibt es keine Trennung zwischen Fiktion & Nonfiktion: Bilder beinhalten immer Bedeutungen & Attribute des Künstlers, weshalb (dokumentarische) Filme höchst subjektiv sind (Lutkehaus und O’Rourke 1989, 432, 434). Unter anderem auf der Suche nach Authentizität, versucht Shimakawa im Film O’Rourke aufgrund seiner Unsichtbarkeit zu rekonstruieren, gewissermaßen seine Charaktermerkmale zu finden, die Aufschluss über seine Identität geben, um seine subjektiven Züge zu reflektieren (Shimakawa 1995, 131, 139). Die Kamera, zu der fast alle Leute direkt sprechen, als „viewfinder“ die Ego-Perspektive vom Filmemacher einnimmt (Shimakawa 1995, 131, 136) ist gerade der Ausdruck O’Rourkes subjektiver Wahrnehmung & Perspektive (O’Rourke 2006, 211–12). Dabei merkt O’Rourke an: „[The] [a]uthenticity of the film […] is entirely subjective“ (O’Rourke 1993, 115; vgl. 2006, 211–12). Selbst-Reflexivität nach O’Rourke sei demnach überflüssig, weil sowohl der subjektive Blick („gaze“) des Filmemachers als auch seine Beziehungen zu den Beobachteten sowie seine Machtposition im Bild ablesbar sind (Lutkehaus und O’Rourke 1989, 431). Ich habe oben bereits erwähnt, dass westliche Touristen die Wahl haben, gefilmt zu werden, während die Prostituierten dem Blick der Kamera hilflos ausgeliefert sind.

Nichtsdestotrotz erklärt Shimakawa, O’Rourkes Selbstreflexion sei insofern gescheitert, dass der Filmemacher sich seiner Autorität über das Narrativ, die Selbst-Konstruktion des Geschehenen sowie seine oberflächliche Interpretation nicht bewusst wird (Shimakawa 1995, 143). Dass der Filmemacher ein moralische Zentrum & Machtinstanz darstellt (Shimakawa 1995, 138), liegt dem Verhältnis zwischen Beobachter:innen & Beobachtenden immer zugrunde – und genau das will O’Rourke mit seinem Film ja darstellen.

Label des Dokumentarfilms & „Dokumentarische Fiktion“

Ein traditioneller Dokumentarfilm besitzt einen Wahrheits- & Authentizitätsanspruch. Die Zuschauer:innen erwarten im Dokumentarfilm meist eine schmackhafte Wahrheit („palatable truth“) als Feel-Good-Erfahrung sowie eine holistische Erklärung in der Form eines geordneten Diskurses mit einer Top-Down-Weise der Beschreibung (O’Rourke 2006, 212). Normalerweise gäbe es dabei eine klare Unterscheidung zwischen gut & böse (O’Rourke 2006, 214). O’Rourke kritisiert die Suche nach der einen Wahrheit durch einen Falsifikationismus und den Reduktionismus des Dokumentarfilms, der Komplexitäten der Realität vereinfacht; Bedeutungen ließen sich nur im Chaos finden (O’Rourke 2006, 212; vgl. Geiger 1998, 9). Ethnographie oder Dokumentarfilm solle den Diskurs darstellen (Lutkehaus und O’Rourke 1989, 434). Obwohl Shimakawa den Film missversteht, ist sie dergleichen Meinung (vgl. Shimakawa 1995, 128, 144). Des Weiteren erkennt sie und Geiger, dass O’Rourke Elemente des Cinéma Vérité einbaut, um den Anschein nach Authentizität zu kreieren: „O’Rourke uses these moments to force the audience to become aware of the exploitative potential of all documentary film footage […]” (Shimakawa 1995, 138; Geiger 1998, 14). Auf Riekers Kritik erwidert O‘Rourke, sie habe ein naives Verständnis des dokumentarischen Wahrheitsbegriffs: „[…] [T]here is no such thing as truth, there is only interpretation.“ (O’Rourke 1993, 114, 117). Im Kontrast zum traditionellen Dokumentarfilm erfindet O’Rourke deshalb den Begriff der dokumentarischen Fiktion (documentary fiction), um die Subjektivität des Filmes zu unterstreichen (Geiger 1998, 8–9).

Im Genre des Dokumentarfilms erörtert O’Rourke einen sogenannten „heimlichen Vertrag“ zwischen Filmemacher:innen (oder Autor:innen)  & Zuschauer:innen, bei dem Filmemacher:innen als heroische Protagonist:innen ein moralisches Schutzschild für Zuschauer:innen darstellen (O’Rourke 2006, 213; Shimakawa 1995, 130–31). O’Rourke konfrontiert mit GWM die Zuschauer:innen direkt, indem er das Schutzschild infrage stellt und ad-absurdum führt (O’Rourke 2006, 213). Das Publikum wird Komplize der ökonomischen, sozialen, sexuellen Ausbeutung der Sexarbeiterin (Shimakawa 1995, 130; Stocks 2001).

Schluss

Die Grenze zwischen Inszenierung & Intimität in der Beziehung zwischen der Prostituierten & dem Filmemacher verschwimmen (O’Rourke 2006, 217) – und das hinterlässt bei vielen Zuschauer:innen ein beunruhigendes Gefühl. O’Rourke spielt mit dem Verhältnis zwischen sich selbst als Person und dem Filmemacher als fiktive Figur, nicht zuletzt indem er zugibt, dass eine gewisse Beziehung immer essenziell für Vertrauen & Öffnung in der Forschung sei (vgl. O’Rourke 2006, 217). Indem er Elemente aus dem Cinéma Vérité sowie dem Voyerismus durch den Blick des Filmemachers verwendet, problematisiert & kritisiert O‘Rourke sie gleichzeitig; eine Kritik der Darstellungsform bestätigt oder reflektiert nur wie aktuell und sensibel das Thema doch ist. Ist O’Rourkes brutaler Film vielleicht ein dokumentarisches Kabarett oder anstandslose Avantgarde?

Heiligt der Zweck die Mittel? – In anderen Worten: Ist seine Art & Weise der filmischen Darstellung für seine Intention gerechtfertigt? Zur Rekapitulation: Ziel & Zweck des Films sei unter anderem (1) auf einer normativen Ebene bestimmte Reporter zu konfrontieren, (2) auf einer deskriptiven Ebene weiterführende & aktuelle Machtverhältnisse aufzuzeigen und (3) auf einer epistemischen Ebene die Grenzen des traditionellen Dokumentarfilms aufzuzeigen. Letzteres beinhaltet die Kritik des Falsifikationismus & Reduktionismus. Auf der epistemischen Ebene erteilt er gewissermaßen einige Lektionen über (a) die den Bildern inhärente Subjektivität der Filmemacher:innen, (b) den Begriff der dokumentarischen Fiktion und (c) die Rolle der Filmemacher:innen als Protagonist:innen, Geschichtenerzähler:innen sowie moralisches & autoritäres Zentrum der Auslegung. Auf der einen Seite bestätigt O’Rourke, dass Repräsentation allgemein und Gleichberechtigung in der Beziehung zwischen Beobachter:in & Beobachtete unmöglich ist, doch verwendet er mithilfe der Rolle des Filmemachers dieses Machtgefälle als Mittel, um Aoi zu repräsentieren. Ein anderes Mittel ist die direkte Konfrontation der Zuschauer:innen durch die Zerstörung des „heimlichen Vertrages“ zwischen Zuschauer:innen & Filmemachers.

O’Rourke suchte nach der Möglichkeit der Liebe als ein Forschungsexperiment im Kontext der Prostitution in Bangkok durch eine Inszenierung einer vorgetäuschten Intimität mit Aoi (Geiger 1998, 9). So stellt sich die Frage, ob O’Rourke sich nicht in Yaiwalak Chonchanakun als Person sondern in Aoi als Figur verliebt hat (adressiert an: Geiger 1998, 9). Geiger zitiert Powers, der das Forschungsexperiment von O’Rourke bildlich so beschreibt: „throwing yourself beyond what you know, plunging into alien emotions and cultures in order to see if you can find your way back home” (Geiger 1998, 10). Das Ergebnis ist ein Produkt seiner subjektiven Wahrnehmung. Geiger merkt dabei an: „His own desires and intentions mark the limits of what he is capable of representing, except that this representation depends upon another – indeed an Other – as the intended subject of his film” (Geiger 1998, 9). Shimakawa formuliert ihre Kritik ein wenig anders als Rieker: O’Rourke präsentiert Stereotypen sowie eine thailändische Identität der sexuellen Verfügbarkeit ohne den ökonomischen Zwang zu reflektieren; er reduziert Thailänder:innen auf ihre Sexualität & Sexarbeit (Shimakawa 1995, 141). Dass O’Rourke Stereotype kreiert, wie z.B. die „gutherzige Prostituierte“ und den „imperialen Filmemacher“, bestätigt er selbst (O’Rourke 2006, 216). Shimakawa behauptet, der Film trage zur Mystifikation, Naturalisierung und Reproduktion der europäischen Agenda des Imperialismus, Kolonialismus sowie Kapitalismus (Shimakawa 1995, 145–46). In Bezug auf die Kritik bin ich mir unschlüssig, ob der Film GWB nicht nur epistemische Gewalt auf subalterne Thailänder:innen darstellt, sondern auch ausübt. Die Beurteilung der epistemischen Gewalt sollte aus der Perspektive der Betroffenen geschehen (vgl. Brunner 2020, 97). Letztendlich erfolgt der Diskurs hinsichtlich einer würdevollen Darstellung der subalternen Prostituiert:innen meist über sie und nicht mit ihnen. Wie viele thailändische Prostituiert:innen kennen den Film und empfinden epistemische Gewalt? Wenn dem so ist, ist epistemische Gewalt für O’Rourke nur Kollateralschaden?