Wahr-um? Wahr-nung? Wahrheit?
Medien spielen in der heutigen Gesellschaft eine der wichtigsten Rollen. Ihre Relevanz ist nicht zu unterschätzen und ihre Macht hat manipulierende Wirkung. Inwiefern prägen Medien den Wahrheitsbegriff? Was ist überhaupt Wahrheit?
Medien haben die Funktion Konsumenten zu informieren und/oder zu unterhalten. Printmedien, wie zum Beispiel die Süddeutsche Zeitung oder das Spiegel Magazin, sind Massenmedien, die LeserInen über gesellschaftliche, politische sowie wirtschaftliche Verhältnisse aufklären. Medien der Entertainment Branche hingegen, wie zum Beispiel Netflix und Amazon Prime, stellt den Konsumenten ein breites Programm mit Filmen zu vergnügen. Diese unterschiedlichen Institutionen sind allerdings nicht nur Vermittler von Informationen und Amüsements, sondern transportieren auch einen Indikator für Gefühle. Unabhängig von der Objektivität eines Zeitschriftartikels oder dem Pressekodex im Allgemeinen, der Mensch liest Fakten grundsätzlich immer unterbewusst subjektiv und assoziiert damit ein Gefühl auf Basis seiner individuellen Erfahrungen. Eine Dokumentation auf Netflix über Veganismus lässt genauso ein Gefühl entstehen wie die News von einem Terroranschlag; ob es ein Anflug der Überraschung und Enttäuschung ist oder Angst und das Bedürfnis künftig nur mit Integralhelm die Straße zu betreten. Jede Schlagzeile, jede Fußnote, jeder Paragraph veranlasst ein Gefühl im Menschen, das er abspeichern, entwickeln, vergleichen und vielleicht sogar genießen kann. So kommt es, dass wir Schadenfreude empfinden, wenn wir uns auf YouTube ein Stan&Ollie Video anschauen, oder dass wir heftig einatmen, wenn wir in der Zeitung von der Umweltzerstörung und dem Klimawandel erfahren.
Zum Austausch von Informationen und Gefühlen bedarf es einem Sender (Medien) und einem Empfänger (Konsument). Dank der Globalisierung kann heutzutage jeder die Rolle des Senders übernehmen. Ein tüchtiger Teenager kann im ersten Moment einen politischen Artikel lesen und im zweiten seine Meinung auf Twitter posten. Eine alte Dame kann die Post ihrer Enkel empfangen und darüber in ihrem Tagebuch-Blog im Internet schreiben. Jeder kann dazu beitragen Informationen und Gefühle auszutauschen. So schließt sich der Kreis der Sender und Empfänger.
Dabei sei angemerkt, dass persönliche, komplexe Gefühle sich komplizierter in objektive, sachlich-nüchterne Worte umformen lässt, als Worte in Gefühle. An dieser Stelle fragt man sich, ob sich der Wahrheitsbegriff im Verlauf der Informationsverbreitung verändert und so beispielsweise Fake News entstehen können. Spielen wir alle im Internet etwa Flüsterpost und verdrehen die Fakten? Wenn heutzutage jeder Sender seiner eigenen Prophezeiungen sein kann, was ist denn dann wahr? Gibt es überhaupt noch eine einzige Wahrheit in der Sintflut der Daten?
Der Mensch ist ein soziales Wesen, das von gemeinsamen Gruppendenken geprägt ist. Statt eigenständig zu Denken und das Rad neu zu erfinden, vertraut der Mensch meistens auf die Expertise anderer. So wissen die meisten Menschen zum Beispiel nicht, wie ein Handy funktioniert oder wie das Essen auf den Tisch kommt; sie wissen zwar, dass es funktioniert, und ergo meinen sie ebenfalls zu wissen, wie. Steven Sloman und Philipp Fernbach sprechen in ihrem Buch „Wir denken, also bin ich“ von einer „Wissensillusion“. In einem Experiment, das das unscheinbare Nichtwissen der Menschen beweisen sollte, wurden mehrere Leute gefragt, ob sie sich mit einem gewöhnlichen Reißverschluss auskannten. Obwohl alle angegeben hatten gut darüber Bescheid zu wissen, konnte keiner die genaue Funktionsweise des normalen Alltagsgegenstandes so detailliert wie möglich erläutern. Yuval Noah Harari bestätigt das Phänomen der Wissensillusion in seinem Buch „21 Lektionen für das 21. Jahrhundert“ und erklärt, dass „die Menschen […] ihre Unkenntnis nur selten [bemerken], weil sie sich in einer Echokammer gleichgesinnter Freunde und das eigene Weltbild bestätigender Newsfeeds eingeschlossen haben, wo ihre Überzeugung ständig bestärkt und nur selten infrage gestellt werden.“ Aufgrund des Nichtwissens, der dennoch extremen Meinungsdiversität und den verschiedenen Belegdisparitäten verfälscht sich der Wahrheitsbegriff. Es entstehen nicht-vollständige Beobachtungen, Klischees, Versimplungen, Inhalte mit verschobenem Fokus auf Probleme, heuristische Beschwerden, wie Verschwörungstheorien, und zuletzt Fake News sowie Lügenpresse.
Die Wahrheit ist ein Glaube. Früher war die Bibel die einzig-gültige Wahrheit im Christentum, heute ist es Wikipedia. Beide medialen Schriften haben eins gemein: sie sind Wahrheit, solange man an sie glaubt. Der Glaube entsteht nur durch das gemeinsame Gruppendenken, nicht aber durch individuelle Rationalität. (Aufgrund meines Nichtwissens und meiner Naivität, bin ich verpflichtet eigene Gedanken mit „ich glaube“ anzuführen.) Ich glaube, dass die Wahrheit ein unbeendeter Prozess der gesellschaftlichen Wahrnehmung ist. Die Wahrheit wird durch die Erfahrungen und die Gefühle der Gesellschaft geprägt, geformt und entwickelt. Gestern hat es kein Wahlrecht für Frauen gegeben, heute gibt es keinen Klimawandel und morgen ist Michel Jackson wiederauferstanden; wer weiß, wer weiß…