Kapitel 1
Erste Eindrücke der Freiwilligen von ijgd/Weltwärts in Indien
Vom Flughafen ging’s mit einem kunterbunten Party-bus auf einem guten Highway in die Stadt Bangladore. Das eifrige Hupen-konzert lud uns fröhlich in die alltägliche, indische Straßenatmosphäre ein. Es kam mir so vor, als ob jedes Auto was zu sagen hatte und uns persönlich mit einem Hupen begrüßen wollte. Zahlreiche Palmen sprießen hier und dort aus der rotbraunen Erde. Viele Häuser wurden als Werbefläche verwendet, weshalb sie die ganze Farbpalette wiedergaben. Wir tauchten allmählich in das dynamische Stadtleben ein. Ich war geradezu fasziniert, als ich versuchte meine ersten Eindrücke zu verarbeiten. Fußgänger unterhielten sich seelenruhig am Rand des Highways. Moped Massen und wilde Fahrradfahrer füllten die Straßen wie kleine Platzhalter zwischen den Autos und Bussen. Es wird überholt, wo man will. Herumstreunende, besitzerlose Hunde wühlten am Straßenrand in leeren Essensverpackungen. Züge fuhren mit offenen Türen. Teilweise saßen ganze Familien auf einem Motorrad. An einer roten Ampel bewegte sich die furchtlose Verkehrsfront fünf Sekunden vor grün über die stark befahrene Kreuzung. Doch obwohl ich als Europäer den spannenden, unterhaltsamen Verkehr als kompletten Chaos empfinde, erkenne ich einige, wichtige Merkmale oder konventionelle Regeln auf der indischen Straße: Zusammenspiel und Kommunikation. Es wird aufeinander aufgepasst und durch ständiges Hupen wird eben auf sich aufmerksam gemacht, wie ein entsetztes: „Achtung, ich bin da, ich bin noch da!“ Während der Familienreise nach Indien 2013, hat unser indischer Fahrer den Verkehr humorvoll zusammengefasst, was man braucht, um beim Fahren zu überleben: gute Bremsen, eine gute Hupe und brennende Aufmerksamkeit. Meiner Meinung nach würde ich noch einen Punkt hinzufügen: Mut. Wie sonst könnte man mit einem voll Familien-besetzten Motorrad als Geisterfahrer in einer gefährlichen Einbahnstraße eine Kolonne Lastwagen überholen, ohne einen kleinen Funken Mut zu besitzen?
Ich vergleiche grinsend die Straßen Indiens mit einem Wimmelbuch. Egal wohin ich schaue, ich finde immer wieder neue und vielleicht sogar fremde sowie absurde Details, die mich zum Schmunzeln bringen. Nach etwa 10-minütiger Busfahrt bekomme ich einen Nackenkrampf vom neugierigen Ausrenken meines Kopfes. Doch ich bin nicht der einzige, der sich den Kopf ausrenkt. Ich spüre wenige skeptische Blicke von Indern, die mich intensiv, vielleicht sogar wie einen Eindringling anstarren. Die meisten schienen fröhlich und begeistert zu sein, Gäste im Heimatland zu haben.
Zu guter Letzt hat sich unser Bus verfahren, musste wenden, stellte sich mitten auf der Straße quer und ließ den Motor mit einer impulsiven Kupplung im Rückwärtsgang absterben. Die Hupfrequenz erhöhte sich vehement, als sich einige, ärgerliche Moppet-Fahrer vorbeidrängeln wollten. Abgesehen von diesem Vorfall ist es äußerst erstaunlich, dass es in der gesamten Stadt nicht einmal zum Stau kam. Der Verkehrsfluss stirbt nie ab. Da kann sich München echt was abschauen…
Mit einem Nachtbus gings von Bangladore zehn Stunden nach Kundapur. Der Nachtbus ist genauso wie der Nachtzug. Nur, dass man jeden Hügel und jedes Loch in der Straße spürt und sich am Geländer des Bettes festkrallen muss, um nicht aus dem Hochbett auf den Mittelgang zu fallen. Unglücklicherweise ist der Bus ohne einen Freiwilligen abgefahren. Deshalb wurde dem vermissten und leicht verwirrten Freiwilligen eine Mitfahrtgelegenheit auf einem Moped organisiert, sodass er die nächsten Rast-Haltestelle des Busses erreicht.
Kommunikation ist nicht immer einfach. Wer behauptet, dass man in ganz Indien Englisch spricht, liegt falsch. Viele Menschen sprechen Englisch. Viele nicht. Als wir in einem Taxi freundlich unbekannte Worte des Fahrers abnickten, mit den animierten Schultern zuckten oder verzweifelt lächelten, erfuhren wir im Nachhinein, dass er eigentlich nur neugierig wissen wollte, woher wir kamen. In Karnataka wird hauptsächlich Kannada gesprochen. (Nein, diese Sprache ist nicht aus dem Land Kanada importiert worden.) Auf unserem zweiten Vorbereitungsseminar in einem Camp nahe Kundapur werden wir diesbezüglich einen kleinen Sprach-Crashkurs bekommen, in dem wir angeblich innerhalb von 30 Tagen die Basics können müssten. Das erste Mal als ich motiviert das dazugehörige Lern-Buch aufgeschlagen habe, habe ich es flink wieder geschlossen. Die Sprache besitzt mir ganz unbekannte Buchstaben. Das alles wird eine sehr schwere Geburt. Sulaba! (Das erste Wort, was ich auf Kannada gelernt habe. Übersetzung: leicht)
In unserem FSL Vorbereitungscamp angekommen, kriegen wir klare Anweisungen, was uns alles in Indien erwartet: eine völlig neue Kultur mit ihren Konventionen und strengen Normen. Dabei gilt der Grundsatz, nicht bei jeder Situation gleich zu urteilen, sondern zu beobachten und zu verstehen.
Zunächst waren wir Freiwillige am späten Nachmittag unterwegs für einen kurzen Spaziergang in der ländlichen, abgelegenen Straße vor dem FSL Camp, als wir eine kleine, provisorische Hütte sahen, die unter dem Dach anfing heftig zu rauchen. Undurchsichtiger, grauer Nebel verbreitete sich zügig in der Atmosphäre. Währenddessen stand der Besitzer seines Hauses seelenruhig daneben. Wir reagierten panisch, weil wir dachten, es würde brennen. Zum Glück haben wir nicht die Feuerwehr angerufen, denn wie sich herausstellte, wird künstlicher Rauch produziert, um die zahlreichen, lästigen Mücken zu verscheuchen. Am Abend umhüllte uns schließlich auch Rauch im Camp. Dennoch war es eine sehr gute Entscheidung unsere Moskito-Netze über die Betten zu stülpen, denn unangemeldeter Besuch von einem brummenden Schwarm Mücken stürmte spontan in unser Schlafzimmer, eroberte den humiden Flug-Raum und fletschte sabbernd ihre Zähne beim Anblick des neuen, europäischen Frischfleisch.
Unvorstellbar für mich war das Tierreich im indischen Haushalt. Das FSL Camp im sehr Natur-reichen sowie offenem Architekturstil bietet eine Unterkunft für die verschiedensten Tiere. Nicht nur Mücken im Schlafzimmer, sondern auch Nacktschnecken in der Dusche, lebendige Hühner in der Küche, ohrenbetäubende Heuschrecken im Garten, Ziegen im Wäschekorb oder gelbe Eidechsen im Klo. Auch Ameisen nutzen das tolerante FSL Habitat und klettern an den Säulen hoch auf das Dach, wo sie wahrscheinlich ein großes Nest besitzen. Aus Neugierde beobachtete ich eine indische Ameisenautobahn und siehe da: auch die Ameisen verursachen einen chaotischen Verkehr, ohne Witz.
Ein weiter zu empfehlender Tipp für jede unbekannte Region in einem wild-fremden Land ist das morgendliche Joggen. Nachdem ich meinen inneren Schweinehund besiegt hatte, mich um 6 Uhr morgens aus meinem Moskito-Netz schälte und an meinen schnarchenden Weltwärts-Kumpanen vorbeitorkelte, lief ich orientierungslos mit schnellem Gebein die farbenfrohen Straßen hinab, ohne dabei zu realisieren, dass ich sie wieder hochlaufen musste. Es stellte sich dabei raus, dass ich keine eigene Musik und Kopfhörer brauchte. Unterhaltsame Stimmungslieder, ein kunterbunter, vorbeifahrender Party-Bus, das Grillen-Gezirpe und islamische Moscheen-Gebete bildeten eine entspannte Klangkulisse für ein intensives Jogging-Programm. Überall grüßten mich Einheimische freundlich. Die Dusche wiederrum musste ich mir hechelnd mit Ameisen teilen.
Es kommt selten vor, dass Kleidungsstücke nicht komplett durchgeschwitzt werden bei diesem heißen Wetter. Es hat tagsüber 30 Grad und die Hose fühlt sich wie eine Tropfsteinhöhle an. Dieses Wetter erinnert an einen wundervollen Hochsommertag in Bayern. Allerdings habe ich mir sagen lassen, dass in Indien gerade die Regenzeit vorherrscht und dass die Trockenzeit 40 Grad jeden Tag ausspuckt. Um auch saubere Kleider zu tragen, müssen wir Freiwillige im Camp lernen dreckige Wäsche per Hand zu waschen, denn eine funktionstüchtige Waschmaschine sieht man nur selten im indischen Haushalt. Wachmaschinen zählen wie Fernseher und Klimaanlage zu den absoluten Luxusgegenständen und müssen nicht unbedingt benutzt werden, weil sie häufig nur für „fancy purposes“ gekauft werden. So zählt die Waschmaschine zum geläufigen Statussymbol für indische Familien. Deshalb brach die Hälfte der Freiwilligen auf, um Seife für ihre Wäsche ausfindig zu machen. Diese kann man sorgenfrei in jedem Kiosk um die Ecke kaufen, für nur 5 Rupees das Stück. So kam es auch, dass eine dreiköpfige, unerfahrene Gruppe Freiwilliger mit einer großen Tüte zurückkehrte, in der nichts anderes war als 10 Keksschachteln, die eine gewisse Ähnlichkeit zu der Seife aufwiesen. Da man sich nicht mit Keksen die Kleidung waschen kann, guckten die beteiligten Freiwilligen ganz schön blöd aus der Wäsche. Nochmal aufzubrechen, geht einem manchmal ziemlich auf den Keks.
Ich habe Bammel davor. Ich schwitze. Ich stehe vor einer indischen Toilette, die kein Klopapier beherbergt. Zur Erklärung: eine indische Toilette ist mit einer Art Wasserschlauch ausgestattet, der von der rechten Hand abgefeuert werden muss, während die Linke am Hintern als Waschlappen nachhelfen muss. Der Erfolg liegt auf der Hand. Soweit habe ich das verstanden. Auf unserem zweiten Vorbereitungsseminar im Inland habe ich diskret gefragt, wie das denn ginge. Unsere Tutoren haben nur peinlich berührt gelacht und meinten wir sollen selbst draufkommen. Da steh ich nun ich armer Tor, und bin so klug als wie zuvor. Ich blicke auf meine unschuldigen Hände. Die rechte hält eine einsame, deutsche Klopapierrolle, die linke viel Mut. Ach, Scheiß drauf. Um sich auf die Kultur einzulassen, muss man vollen Einsatz geben. Aber erst morgen. Oder übermorgen. (Oder vielleicht in zwei Wochen.) Aber das ist schon die einzige Sache, vor der ich richtigen Schiss hab. Der Klopapier-countdown beginnt. Ich bin gearscht.
To be continued…