Kapitel 2
Die Ankunft in der indischen Gastfamilie
Bevor man über den eigenen Tellerrand blickt, sollte man sich vielleicht zu allererst mit seinem Teller beschäftigen. Reis. Eine scharfe Soße. Meist Gemüse, selten Fleisch oder Fisch. Eventuell Brot. Lecker. Inder essen Reis am Abend, am Mittag und auch am Morgen, ohne Ausnahme. Für mich ist das sehr ungewohnt; meine Zähne sehnen sich allmählich nach einer knackigen Konsistenz. In Indien gibt es selten Besteck; stattdessen schiebt die rechte Hand die Nahrung in den Mund. Ein Vorteil davon ist, dass man im Nachhinein nicht so viel abwaschen muss. Diese Essensmethode war zunächst sehr ungewohnt für mich. So saß ich also fleißig schaufelnd am Esstisch und badete meine sich ständig verbrennenden Finger im alltäglichen Reis. Während ich so vor mich her plantschte, fiel mir eine Erbsenhülse auf. Ich versuchte aus ihr vergeblich Erbsen heraus zu zuzeln, als mir dann schließlich auffiel, dass es keine Erbse war, sondern eine grüne und feuerscharfe Peperoni. Ich glaubte zum feuerspuckenden Drachen zu mutieren. Inder haben wohl ein Händchen für scharfes Essen.
Von unserem FSL-Camp ging es direkt zu unseren Gastfamilien in Kundapur, bei denen wir ein ganzes Jahr verbringen würden. Jeder von uns Freiwilligen schlüpfte in ein Hemd, denn der erste Eindruck zählt. Ich wurde bei einer hinduistischen Familie untergebracht, die wirklich sehr nett ist. Der Vater arbeitet tagsüber und pflegt mir jeden Abend freundschaftlich auf die Schultern zu klopfen. Die Mutter kümmert sich den ganzen Tag um den Haushalt, bereitet das Essen zu und steht schon um 6 Uhr morgens im traditionellen Sari auf der Matte. Ihre zwei Söhne, 15 und 18, sind tagsüber in der Schule und spielen unglaublich gerne Volleyball. Deshalb zählt in dieser Straße der Hintergarten der Familie als Jugendtreffpunkt Nummer eins, um Volleyball über eine improvisierte Wäscheleine zu üben. Insgesamt verstehe ich mich echt ziemlich hervorragend mit allen, obwohl die Eltern nur basic Englisch sprechen. Ich teile mir das enge Gäste-Zimmer mit einem netten Freiwilligen, den ich bereits auf meinem Vorbereitungsseminar kennen gelernt habe. Zusammen werden wir herzerwärmend verwöhnt mit 4 Speisen pro Tag. Das ist Luxus.
Neben dem einstöckigen Haus besitzt die Familie eine Art kleinen Schuppen, in dem zwei Kühe sowie ein frisch geborenes Kälbchen hausen und an dem ein 8 Monate junger Hund angebunden ist. Letzteres ist meine größte Sorge in meiner Gastfamilie, denn der Hund scheint echt gestört.
Im Haus gibt es manchmal auch unangemeldeten Besuch. (Ich erspare meinen Lesern die wahnwitzigen, emotionalen Ausbrüche aufgrund von zahlreichen Mücken, die wie im Rudel jeden Zentimeter meines Körpers durchsieben, trotz Mosquito-Netz beim Schlafen.) Schon am ersten Tag meiner Ankunft empfängt mich ein majestätischer Pfau auf dem Dach. Spinnen sind meistens Stammgäste im Haus. Um ehrlich zu sein, ich fürchte mich extremst vor einer bestimmten, behinderten Spinne, die uns abends immer wieder besucht. Sie ist so groß wie meine Hand und verdammt schnell unterwegs, obwohl sie nur sechs Beine hat. Auch gelbe Eidechsen sind typische Einbrecher in indischen Haushalten. Wir haben versucht eine von ihnen in unserem Zimmer einzusperren, damit sie unsere Mücken auffrisst.
Alles in allem lässt sich‘s echt schön leben, hier. Es fühlt sich so wie ein Ferienparadies an. Ich wohne in einer ruhigen Seitenstraße, die nach 400 Metern die Hauptstraße in Kundapur kreuzt und in die andere Richtung auf dem direktesten Weg über eine Brücke zu einem traumhaften, mit Muscheln bedeckten Strand führt. Somit erreiche ich das naheliegende Gym sowie den Busbahnhof im Stadtzentrum genauso gut wie die gesellige, erholsame Strandbar an der Westküste. Zudem habe ich Glück auch mit anderen Freiwilligen in derselben Straße zu wohnen, weshalb ein spontaner Ausflug auf von Palmenschatten bedeckten Pfaden zu einem wunderschönen Leuchtturm umso angenehmer gestaltet.
Ob von diesem Ausblicksturm oder von einer Sandbank, der Sonnenuntergang lässt sich gleichgut genießen. Die Wolken färben sich kontrastreich rot, orange zu dem restlichen blau, türkisen Rahmen aus unendlichem Meer und Himmel. In der Dämmerung verlaufen sich kleine, flinke Krebse vor dem Wellengang und Seeadler sowie Krähen segeln regungslos in der frischen Brise des Nachthimmels.
Der Austausch mit Einheimischen ist immer sehr entspannt. In Deutschland kommt es meistens zu einer unangenehmen Situation, wenn man in der hektischen Innenstadt gestresste, skeptische Passanten nach dem Weg fragt; aber hier scheint es normal zu sein mit wildfremden Menschen sein Leben zu teilen. Viele Inder fragen sehr neugierig woher wir kommen und was wir hier ein Jahr lang machen werden. Ich habe mich noch nie im Leben so relaxed gesehen wie ich in gebrochenem Englisch eine äußerst gemütliche, familiäre Konversation führe.
Zudem weiß ich die natürliche Offenheit und Freundlichkeit der Einheimischen zu Ausländern wahrhaftig zu schätzen. Im Gegensatz dazu, habe ich bisher viele deutsche Menschen gesehen, die nicht gerade so tolerant zu Ausländern waren und sich nicht unbedingt die Mühe machten diese respektlose Einstellung zu verbergen. Bis jetzt hatte ich nicht einmal das Gefühl unter Fremdenhass zu leiden. Ganz im Gegenteil. Als mein Zimmergenosse und ich eines Tages auf Entdeckungsreise waren, fragte uns eine Gruppe von Jugendlichen, ob wir eventuell Lust hätten mit Volleyball zu spielen. Zwar wurden wir von diesen jungen Profis in kürzester Zeit komplett überwältigt, aber ich bewundere die Gastfreundschaftlichkeit sowie die Gelassenheit gegenüber unbekannten Menschen. Wo ich auch hingehe, ich fühle mich Willkommen. Das ist etwas Besonderes.
Nach unserer täglichen Exkursion schwitze ich Eimer in Litern. Es ist einfach irre heiß hier. Allmählich wird es zum Brauch drei Mal am Tag zu duschen und mindestens zwei Mal Hose zu wechseln. Ich bin die Hitze nicht gewöhnt, denn anscheinend duscht meine Gastfamilie gerne heiß. Mein Zimmergenosse und ich klebten bei unserer Ankunft unsere Fenster mit Mückennetze ab, um das Fenster auch nachts offen zu lassen, ohne tausende, mörderische Twilight-Vampire füttern zu müssen. Soweit haben wir uns ganz gut eingelebt.
Da ist nun nur noch eine Sorge. Die Klopapierrolle ging ziemlich schnell drauf. Aufgrund meiner Hausstauballergie meldete sich meine tropfende Nase zu Wort und verlangte so viel Aufmerksamkeit, dass die wertvolle Rolle sich dem Ende neigte. Ich rümpfte meine Nase. Ich seufzte. Ist das der Anfang meines Kulturschocks? Ich gab benommen „how to shit in india“ in Wiki-How ein, fand die Definition einer Squat-Toilet, eignete mir wie ein Anfänger Schritt für Schritt die Gebrauchsanweisung an und dachte mir im Stillen, dass ich jetzt wüsste, warum die linke Hand in Indien als unrein gilt…
To be continued…
Kommentar von 2020: ich habe die Squat-Toilette während meinem Freiwilligen Jahr als sehr angenehm empfunden. Auch bin ich sehr begeistert von der Idee Wasser und die linke Hand zum Abputzen zu benutzen; diese Prozedur scheint mir sauberer als Toilettenpapier. Als ehemaliger Klavierspieler ist mir Handhygiene sehr wichtig; trotz des Ekelfaktors ist die Hand mit indischer Seife sorgenfrei sauber.